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Sinnbild des Krieges. Jahrzehntelang war eine retuschierte und kolorierte Fotografie des Brandes vom 19. September 1914 als Postkarte verbreitet. Mit dem Besuch von Adenauer und de Gaulle 1962 wurde die Kathedrale zum Ort der Versöhnung.

©  Yann Harlaut/aus dem Buch

Propaganda im Ersten Weltkrieg: Als die Kathedrale von Reims brannte

Im Ersten Weltkrieg brannte das gotische Gotteshaus. Thomas W. Gaehtgens' neues Buch zeigt, wie die Kathedrale daraufhin Kriegssymbol und Propagandamotiv wurde.

Kein Krieg hat sich je um Kulturdenkmäler einen Bogen gemacht, im Gegenteil. So war auch die Beschießung der Kathedrale der nordfranzösischen Stadt Reims im Ersten Weltkrieg eine Augenblicksentscheidung der Militärs – freilich mit enormen Folgen. Denn als Krönungskirche der französischen Könige war und ist die Kathedrale ein zentraler Erinnerungsort der nationalen Identität Frankreichs.

„Die brennende Kathedrale“ hat Thomas W. Gaehtgens sein Buch über die Ereignisse der Jahre 1914 ff. überschrieben, dessen Untertitel leider nur der englischen Ausgabe „Krieg und Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland“ als eigentliches Thema zu erkennen gibt. Die Beschädigung und fortschreitende Zerstörung des Bauwerks wurde über die gesamte Kriegsdauer hinweg ein Hauptmotiv der Propaganda Frankreichs. Der Kunsthistoriker Gaehtgens, bis zum Frühsommer Direktor des Getty Research Institute in Los Angeles, will Vorgang und Folgen der Ereignisse darstellen: „100 Jahre nach den Vorgängen ging es weniger darum, der einen oder anderen Seite Recht zu geben, als vielmehr die Umstände des dramatischen Konflikts zu erforschen und zu begreifen.“

Beschießung durch die Deutschen war unbeabsichtigt

Das ist dem langjährigen Professor an der FU Berlin und Begründer des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris eindrucksvoll gelungen. Am Ende des über vier Jahre sich hinziehenden Gedenkens an den Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren bildet Gaehtgens’ Buch so etwas wie Abschluss und Zusammenfassung der zahlreichen Publikationen und Ausstellungen, die sich der Zerstörung von Kunst und Kulturgütern insbesondere an der Westfront, auf belgischem und französischem Boden, gewidmet haben.

„Selten, wenn überhaupt jemals, hat der militärische Angriff auf ein Baudenkmal einen solchen Sturm der Empörung in Texten und Bildern ausgelöst“, konstatiert Gaehtgens. Der militärische Aspekt ist schnell erzählt. Das deutsche Heer grub sich nach der missglückten Marne-Schlacht im Herbst 1914 unmittelbar vor Reims ein, während auf der anderen Seite die Stadt als Bollwerk vor Paris unbedingt gehalten werden musste. Am 19. September geriet die Kathedrale in Brand. Ausgerechnet das enorme hölzerne Gerüst an zwei Seiten des Bauwerks, das das Feuer anfachte, war kurz vor dem Krieg für überfällige Restaurierungsmaßnahmen errichtet worden. Gaehtgens hält bei aller Vorsicht hinsichtlich der Quellenlage dafür, dass die deutsche Beschießung der für einen militärischen Beobachtungsposten gehaltenen Türme eher zufällig und ohne Bedacht erfolgte, jedenfalls nicht aus einer französischerseits unterstellten Absicht heraus. Im Verlaufe der vier Kriegsjahre wurde Reims fast völlig zerstört, während die Kathedrale, wenn auch als Ruine, aufrecht stehen blieb.

Gaehtgens konstatiert ein Versagen der Intellektuellen

Mit den Intellektuellen auf beiden Seiten, die sich an der politischen Auseinandersetzung wie kaum je zuvor beteiligten, geht Gaehtgens hart ins Gericht. Er spricht, und das ist das Kernthema des Buches, vom „völligen Versagen der deutschen und französischen Intellektuellen“: „Bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie etwa Romain Rolland auf der französischen oder Albert Einstein auf der deutschen Seite, haben sie, statt die Sinnlosigkeit des Krieges anzuprangern, sich in nationalistische Überheblichkeit und blinde Obrigkeitshörigkeit verstiegen“. Auf die französische Propaganda antwortete der im Oktober in vielen deutschen Zeitungen abgedruckte Aufruf „An die Kulturwelt!“, unterzeichnet von 93 Wissenschaftlern und Künstlern, von Max Planck bis Max Liebermann. Dem Pathos der Gegenseite hatte der Aufruf kaum etwas entgegenzusetzen: „Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entscheiden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.“ Die geistige Niederlage war nicht mehr abzuwenden: „Das ,Manifest der 93’ trug erheblich zum Abbruch der intellektuellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bei.“

In der Folge wurde die zerstörte Kathedrale zum Synonym für deutsches „Vandalentum“, in der Bevölkerung verbreitet in zahllosen, durchweg verfälschten Bildpostkarten; der „Lächelnde Engel“, die bekannteste der schwer beschädigten Portalfiguren, wurde zum „Lächeln von Reims“ verklärt.

Reims spielte eine große Rolle bei der deutsch-französischen Aussöhnung

Gaehtgens zeigt die nationalistische Indienstnahme der Gotik, der die Reimser Kathedrale entstammt. Dieser im frühen 19. Jahrhundert aufgekommene Streit um die Urheberschaft der mittelalterlichen Baukunst gipfelt im Bannfluch des Kunsthistorikers Émile Mâle 1917, Deutschland habe „nicht das geringste Recht, in der Gemeinschaft der großen schöpferischen Nationen aufzutreten (...) es hat nichts selbst geschaffen.“ Auf deutscher Seite hatte Wilhelm Worringer 1912 erklärt, „das Land der gotischen Reinkultur“ sei „der germanische Norden“.

Der verlorene „Krieg der Worte und Bilder“ führte allerdings zu einer Einrichtung, „die sich in den folgenden Kriegsjahren (...) als segensreich erweisen sollte“: dem „Kunstschutz“. Der zum „Reichskommissar“ ernannte Provinzialkonservator der Rheinlande, Paul Clemen, ließ umfangreiche Dokumentationen der Kriegsschäden in ganz Nordfrankreich anfertigen. 1919 erschien das zweibändige Werk „Kunstschutz im Kriege“, in dem Clemen ausdrücklich das Bild der inmitten der zerstörten Stadt „in einsamer Majestät“ stehenden Kathedrale aufruft. Die Kathedrale war zum Symbol des Krieges wie auch der moralischen Rechtfertigung Frankreichs geworden. Erst 1938 war sie wiederhergestellt.

Gaehtgens schließt sein Buch mit einem Kapitel über die Rolle, die Reims nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland gespielt hat und bis heute spielt. Dass sich der heutige Leser angesichts der Unmenge an Wut und Hass, die ihm aus den Propagandaschriften der Kriegsjahre entgegenschlägt, nur mehr verwundert statt erregt, bezeugt, wie selbstverständlich ebendiese Aussöhnung zum Glück geworden ist.

Thomas W. Gaehtgens: Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg. Verlag C.H. Beck, München 2018. 351 S. m. 88 Abb., 29,95 €.

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