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Taiwan, ein widersprüchliches Land. Hier die Millionenstadt Taipeh.

© dpa / Picture-Alliance

Prosa-Anthologie aus Taiwan: Vergangenes, das nicht vergehen will

Vom langsamen Weg aus der Diktatur hin zu Demokratie und Freiheit: Thilo Diefenbach hat eine Sammlung von Erzählungen, Romanauszügen und Essays aus Taiwan herausgegeben.

Nicht viele Europäer wissen, dass auf der dem chinesischen Festland vorgelagerten Insel Taiwan vom Mai 1949 bis zum Juli 1987 Kriegsrecht herrschte, ja dass sich das Land mit knapp 24 Millionen Einwohnern auf der Fläche Baden-Württembergs de facto über einen noch längeren Zeitraum hinweg in einem komplizierten Ausnahmezustand befand. Die Aufhebung des Kriegsrechts vor 30 Jahren war ein Meilenstein auf dem Weg zu Demokratie und Freiheit, auch wenn der Juli 1987 keineswegs eine „Stunde null“ bedeutete.

Neun der insgesamt 30 Erzählungen, Romanauszüge und Essays in der liebevoll gestalteten Anthologie „Kriegsrecht“ entstanden vor dieser Zeit, die „Friedenserklärung“ von Yang Kuei sogar schon 1949. Die meisten anderen Texte lassen den Schluss zu, dass die Zeit zwischen 1987 und der Jahrtausendwende als Übergangsphase zu sehen ist, in der sich eine schrittweise Abkehr von der Diktatur vollzog. Wobei diese „Normalisierung des Alltags in Taiwan“, wie der Herausgeber in seiner instruktiven Einleitung betont, nach wie vor „im groben Missverhältnis zur immer noch sehr heiklen außenpolitischen Lage“ steht.

Kritik am taiwanischen Machismo

Der Behauptung von Thilo Diefenbach, es sei an der Zeit, „die taiwanische Literatur nicht mehr als bloßen Nebenstrom irgendeines mächtigen Flusses zu betrachten, sondern als eine ganz eigene, vielfältige und faszinierende Welt“, wird man kaum widersprechen wollen. Vielgestaltig sind diese oft fremd erscheinenden Texte allemal – wobei der Eindruck des Fremden vor allem durch die erzählten Inhalte und die Bezüge zu uns nicht vertrauten Traditionen entsteht. Die literarischen Formen sind weitgehend international bekannt, und manch anderes ist es gewiss auch: Wer wird bei der grandiosen Erzählung „Gerüchte“ von Shu Ch’ang nicht an Kafka denken?

Der Leser lernt Kriegsveteranen kennen, die sich verdächtige Tätowierungen entfernen lassen, oder einen Mann mit zwei Familien, von denen er eine aus politischen Gründen jahrzehntelang nicht sehen kann. Er liest von einer Frau, die die Erinnerungen ihres dement werdenden Vaters zu sortieren versucht. Von einem politisch desinteressierten Elite-Akademiker, der sich aus grenzenloser Verliebtheit plötzlich mit fatalen Folgen für die Demokratiebewegung engagiert. Von einem naiven Spitzel, der sich am Ende selber denunziert. Oder von einem Ex-Soldaten, den sein Exildasein in die Kriminalität treibt. Den taiwanischen Machismo kritisiert die Autorin Hu Ching-fang in der jüngsten hier aufgenommenen Erzählung „Die Welt“ von 2016. Eine Sammlung voller Facetten aus einem widersprüchlichen Land.

Thilo Diefenbach (Hg.): Kriegsrecht. Neue Literatur aus Taiwan. Iudicium Verlag, München 2017. 452 Seiten, 36 €.

Klaus Hübner

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