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Protest im Iran: ''Ich bin Neda''

Sterben live: Im Internet ist der erschütternde Tod einer Frau zu sehen, aber Fernsehen und Zeitungen verbreiten diese Szenen aus Teheran zunächst nicht. Die Bilder aus dem Netz attackieren die Diktatur - und bedrängen die klassischen Medien.

Es war der Sonnabend, der Tag nach der Predigt von Ajatollah Chamenei, die keine Hoffnung ließ. Nur 3000 Demonstranten noch. Nicht Hunderttausende, Millionen wie noch in den Tagen zuvor, die Einschüchterungspolitik schien erfolgreich. Und doch, auf Youtube und Facebook, den verbliebenen frei zugänglichen Bilderquellen, wurden weiter im Minutenabstand Videos hochgeladen. Bilder von durch die Straßen jagenden, gejagten Menschen, die sich hinter Mauern in Privathöfe flüchten, deren Türen sich auftun und wieder zu schließen suchen, Bilder von nachdrängenden Milizionären, Prügelbilder, aufgenommen von Häuserbalkonen.

Undeutliche, verpixelte, verruckelte, verwackelte Realzeitminuten von eskalierender, partikularer Gewalt, festgehalten für jeden Erdenbewohner mit Internetanschluss, nur vier Klicks und ein Suchwort nah. Und dann der Schock. „Iranian girl is dying by shot in lung.“ Zu sehen: eine zusammengebrochene junge Frau in schwarzem Pulli und Jeans, um die sich eilig Menschen in Zivil bemühen, und nach Sekunden nur brechen ihr die Augen, schauen starr und wie unmittelbar in die Kamera. Kurz darauf, während Umstehende rufen und immer mehr Blut über ihr Gesicht strömt, wird das Bildzentrum des auf Youtube verbreiteten Kürzestfilms mit feinem Grauraster und dem Hinweis „extremely violent“ verdeckt. Ein Akt der Pietät, aber der Schrecken sitzt. Sofort und tief.

Sterben live: Im Internet ist der erschütternde Tod einer Frau auf offener Straße zu sehen, offenkundig eine Szene aus dem aufgewühlten Setting dieser Teheraner Tage, aber Fernsehen und Zeitungen verbreiten diese ungeheuer symbolhaltigen Szenen während des gesamten Wochenendes nicht. Mit aller Moral des seriösen Journalismus wehren sich die klassischen Medien gegen die Macht dieser Bilder – und stecken in einem beispiellosen Dilemma. Zwar ist das Internet angesichts der vielfältigen Berichterstattungshemmnisse durch die iranischen Behörden das einzig verbleibende freie und zudem unablässig Material liefernde Medium; als sichere Quelle aber eignet es sich nur beschränkt, weil die Herkunft seiner Bilder oft nicht überprüft werden kann. Andererseits: Wer etwa könnte so perfide sein, aus welch freiheitsdurstigen Motiven auch immer in diesen Tagen mit einem trickreich inszenierten Video den Widerstandsgeist anzustacheln – einem Video, in dem eine Frau ihr Sterben bloß spielt?

Kaum 24 Stunden später weiß die Welt es genauer, die Boulevardzeitungen berichten, am Montagmorgen sendet dpa – noch mit Hinweis auf die unsichere Internet-Quellenlage – Screenshots des Videos (unser Foto). Und Hadi Ghaemi von der Internationalen Kampagne für Menschenrechte im Iran sagt gegenüber dem Tagesspiegel, es gebe mehrere Zeugen, die den Vorfall bestätigen. Neda Soltani heißt die 27-jährige Philosophiestudentin, die am Sonnabend kurz nach 19 Uhr durch die Kugel eines Scharfschützen der Basij-Milizen auf dem Teheraner Karekar-Boulevard binnen weniger Minuten starb. Ein Arzt, der sie mit Herzmassage vergeblich zu retten suchte, leitete den von einem Freund aufgenommenen 37-Sekunden-Film an eine Familie in Holland mit den Worten weiter: „Bitte lasst es die Welt wissen.“ Der weißhaarige Mann, der auf dem Video „Hab keine Angst, Neda! Bleib bei mir, Neda, bleib bei mir!“ ruft, ist ihr Vater.

Kein finsteres Straßentheater also, kein anderweitiges found footage, kein Arrangement: Mit ungeheurer Wucht fegen in diesen Tagen die nutzergesteuerten Medien Youtube, Twitter und Facebook die guten, alten Nachrichtenkanäle beiseite, die prinzipiell in strittigen Fällen am liebsten doppelt abgesichertes Wissen in Umlauf bringen. Schon ist Neda, der Vorname heißt auf Persisch „Stimme“, eine Ikone des Aufstands. Fernab abendländischer Recherche-Skrupel wirkte die Authentizität des Videos in Iran unmittelbar. „Neda, die Welt weint, als sie deine letzten Atemzüge sah“, heißt es seit dem Wochenende überall auf Twitter. Tausende, die dort ihr Profil angelegt haben, haben ihr Foto unter dem Motto „Ich bin Neda“ durch das der Toten ersetzt. Während der Hoffnungsträger Mussawi den Weg des Märtyrers nicht mehr ausschließt, hat die neue iranische Revolution ihre erste Märtyrerin – und rührt mit dem Begriff an fundamentale schiitische Überlieferung.

Ob die Volkserhebung der Iraner gegen den Wahlbetrug vom 12. Juni eine blutig niedergeschlagene Revolte bleibt, ist derzeit noch die unklare, jedes Freiheitsbewusstsein aufrührende Frage. Dass sie eine Medienrevolution bedeutet, ist dagegen gewiss. Während der professionelle Journalismus von der Straße gedrängt wird und sich mit Deutungsposen im Studio oder vor symbolisch grünem Buschwerk begnügen muss, füllt die ausschließlich nutzergesteuerte Nachricht die Lücke – und triumphiert wie nie zuvor. Community schlägt Hierarchie. Kommunikation ist Information. Fortan gilt: Diktaturen, die die freie Berichterstattung fürchten und durch Anwendung von Gewalt zu zerstören suchen, machen sich mit ihren Text- und Bilderverboten nur noch lächerlich. Und der Begriff „Nachrichtensperre“ gehört ins Lexikon der toten Wörter.

Hinzu kommt: Das klassische Glaubwürdigkeitsproblem, das die massenhaft anonym ins Netz gestellten Wirklichkeitspixel in Sachen Quellenlage haben, machen sie durch ihre unmittelbare ästhetische Plausibilität mehr als wett. Wo in Nachrichtenbeiträgen vom kommentierenden Text bis zur Bildmontage mit journalistischen Codes gearbeitet wird, überzeugen die Mini-News gerade durch das schmucklose, schnell hochgeladene und eben nicht komponierend gearbeitete Bild – mit ungeschnittenen Augenzeugenszenen, deren Kadrierung ebenso Nebensache ist wie die Bildschärfe oder die Qualität des Tons. Diese Instant-Dokus in Realzeit, so zufällig krude wie das einstige Direct Cinema absichtsvoll krude war, überrennen geradezu jeden kritischen Vorbehalt gegen ihre stets auch technisch mögliche Manipulierbarkeit. Das mag im derzeitigen historischen Augenblick gefährlich finden, wer will; zuallererst ist es befreiend.

Die Bilder vom Sterben der Studentin Neda: Sie geben dem iranischen Widerstand inzwischen auch weltweit eine gemeinsame Stimme. Und ein Symbol: „Engel des Iran“ wird sie in Facebook betrauert, Demonstranten in New York und Los Angeles tragen Poster mit ihrem blutüberströmten Gesicht. Dass die Teheraner Behörden am Sonntag eine Trauerfeier für die bereits beerdigte Studentin verboten haben, spricht für die Wirkungswucht des digital weltweit verbreiteten Ereignisses. Die Mullahs mögen mit ihren Motorradschwadronen und Morden weiter Schrecken verbreiten, der „Tod der Diktatur!“, der allnächtlich und archaisch analog als zehntausendfacher Ruf aus Teheraner Häusern erschallt, rückt näher und näher.

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