zum Hauptinhalt
Standhafte Töne. Juri Schewtschuck kritisiert Putin und gründete den Wählerbund.

© AFP

Protest-Pop: Das singende Phantom

Die Ahnen von Pussy Riot: Wie Punk- und Rockmusik in Russland zum Protestmedium wurde.

Man könnte sagen, der erste russische Protestsänger sei Smerdjakow, der vierte – uneheliche – Bruder Karamasow. Im fünften Buch seines Romans beschreibt ihn Dostojewski als Gitarre klimpernden Barden. Dabei erklärt der zornige Jugendliche seine Philosophie: Er hasse Russland, sagt er, und würde gerne das Militär abschaffen. „Reichtum interessiert mich nicht“, singt er, „wenn es meiner Geliebten gut geht.“ Ein Vorbote des berühmten Beatles-Refrains „I don’t care too much for money, for money can’t buy me love.“

Lange bevor die Punkrockerinnen von Pussy Riot wegen ihrer Aktion in der Moskauer Kathedrale des Erlösers angeklagt wurden, stellte der rebellische Jugendliche mit der Gitarre eine bedrohliche Phantomgestalt für den russischen Staat dar. Musik, vor allem wenn sie aus dem Ausland kam, wurde schon in den frühen Jahren der Sowjetunion als konterrevolutionäre Waffe abgestempelt. „Zuerst hört er Jazzmusik und irgendwann wird er zum Staatsverräter“ lautete ein berühmter Spruch aus der Stalin-Zeit.

Auch in den volkstümlichen Akkorden der Liedermacher in den Sechzigern hörten die Zensoren staatsfeindliche Bedrohung. Als besonders gefährlich galt der Rock’n’Roll. „Es war ein Virus, der den Organismus der Sowjetunion von außen angriff“, schreibt der Journalist Artemji Troitski, der in den achtziger Jahren die Entstehung der Rockszene begleitete und heute ein leidenschaftlicher Putin-Gegner ist. Der Kreml erkannte die Gefahr, und versuchte die neue Musikwelle zu stoppen. Vergeblich. Im Laufe der sechziger Jahre wurden hunderte Tonbänder – vor allem mit Beatles-Songs – ins Land geschmuggelt. Sie wurden dann auf Röntgenbilder statt auf Vinyl eingraviert und auf dem Schwarzmarkt verkauft.

Einige Jugendliche fingen schon bald an, die Hits der British Invasion nachzuspielen. Erst in den siebziger Jahren wagten es die ersten Bands eigene Lieder auf Russisch zu singen. „Sie sangen über Freiheit, Drogen, Korruption und Verfremdung“, erzählt Troitski, „verbotene Themen in Breschnews Sowjetunion.“ Auch von den offiziellen Bühnen waren die Rocksänger verbannt. Ihre Auftritte fanden meist in Privatwohnungen statt. Künftigen Stars des russischen Rocks wie Yuri Schewtschuck und Boris Grebentschikow begannen ihre Karriere in überfüllten, verrauchten Küchen, in denen sich oft auch KGB-Agenten aufhielten. Rockbands wie Maschina Wremeni und Aquarium stiegen zu echten Untergrundstars auf.

Das Ausmaß des Phänomens nahm der Kreml erstmals Anfang der Achtziger wahr, und versuchte, die Gruppen durch staatliche Festivals unter Kontrolle zu halten. Doch die jungen Musiker schienen zu wissen, dass eine größere Wende bevorstand. „Wir sagten uns, wir dürften nicht von dem geraden Weg abweichen. Aber es war Schicksal. Wenn ich ehrlich sein darf: Jeder hat Angst vor Veränderungen. Und trotzdem sind sie irgendwann da“, sangen 1981 Maschina Wremeni im Lied „Povorot“ (Wendepunkt). Zwar durften die Bands nun endlich offiziell auftreten. Doch die Kontrollen blieben streng. Viele Musiker erhielten Auftrittsverbote. So wurde etwa Jegor Letow Sänger der Punkband Graschdanskaja Oborona, vom KGB wegen terroristischer Aktivitäten festgenommen und später in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Erst Gorbatschows Perestroika öffnete das Land für die internationale Popmusik. Gleichzeitig durften einige russische Bands zum ersten Mal im Ausland auftreten. Doch viele Musiker glaubten nicht an die neue Freiheit: „Unser Vater Lenin ist verwest. Die Perestroika geht nach Plan. Aus dem Schlamm wurde Eis. Und alles geht nach Plan“, sang 1987 der mittlerweile verstorbene Punkpionier Letow. In den neunziger Jahren wurde Rock zum Mainstream-Phänomen. Es gab Konzerte in Stadien, besseres Equipment und höhere Gagen. Einige ehemalige Küchenstars versuchten den Sprung in den internationalen Markt.

Viele Musiker blieben allerdings ihrer Rolle als rebellisches Gewissen des Landes treu. Der Sänger von DDT, Juri Schewtschuck, tourte durch die Kriegsregion Tschetschenien und wurde später zu einem der ersten Intellektuellen, die Vladimir Putin öffentlich kritisierten. Als Mitglied der Generation, die mit dem „Küchenrock“ aufgewachsen ist, war sich Putin des starken Einflusses der Musik auf die jüngere Generation bewusst. Bereits in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft versuchten die PR-Experten des Kremls, prominente Rockstars für verschiedene Pro-Regierungskampagnen zu gewinnen. Als Schewtschuck vor zwei Jahren zu einem Dinner mit Putin und anderen Vertretern der russischen Kulturwelt eingeladen wurde, kam es zum Eklat. Man habe versucht, ihm unangenehme politische Fragen zu verbieten, sagte der Sänger dem Premierminister vor laufender Kamera. Zuerst schien Putin amüsiert. Doch als der Sänger begann über Pressefreiheit und Polizeigewalt zu sprechen, wurde Putins Miene finster. Für die demokratische Entwicklung des Landes müsse man einige Opfer bringen, entgegnete er.

Schewtschuck wirft Putin vor, die wachsende Protestbewegung zu ignorieren. Und so gründete er Anfang des Jahres mit anderen Regimekritikern die Protestbewegung „Wählerbund“. Außerdem gehört er zu den Musikern, die ihre Lieder für die regierungskritische Musiksammlung „White Album“ zur Verfügung stellten. Der Titel spielt auf das Beatles-Album und auf die Farbe der Anti-Putin-Bewegung an. Rund 200 Bands nehmen an dem Projekt teil, von Veteranen wie der Dark-Rock Band Krematori bis hin zu jungen Hip-Hop-Stars wie Noize MC. Die neuen Protestsänger wachsen über den Schatten ihrer Vorgänger hinaus. Denn ihnen stehen bessere Mittel zur Verfügung, ihre Musik bekannt zu machen, außerdem ist die Szene inzwischen weit größer und längst keine reine Männersache mehr. „Die Revolution ist nicht nur für Bauern: Man soll mehr Mädchen an Bord holen!“, forderte die Sängerin Dasha Lux kürzlich auf Radio Moskwa. Wie Pussy Riot mischt sie Provokationen und politische Botschaften in ihre Songs. Die angeklagten Musikerinnen betonen, dass ihre Performance rein politisch motiviert war. Die Ankläger behandeln den Fall jedoch wie eine moralische und religiöse Angelegenheit; erneut sollen Regimekritiker dämonisiert werden.

Es ist, als sei das singende Phantom wieder da, mit einem alten Lied der Kultband Kino auf den Lippen: „Veränderungen brauchen unsere Herzen, Veränderungen brauchen unsere Augen. In unserem Gelächter und in unseren Tränen. Und im Pulsieren unserer Venen. Veränderungen! Wir erwarten Veränderungen.“

Zur Startseite