zum Hauptinhalt
Päonien und Chrysanthemen über Berlin – die Effekte der professionellen Feuerwerker haben alle Blumennamen.

© Getty Images

Psychologie des Feuerwerks: Woher kommt die Lust am Böllern?

Die Faszination für Feuerwerk ist alt. Und hat viel mit Musik zu tun. Besuch bei einem Pyrotechniker.

Niemand hat die Mentalitätsgeschichte und Psychologie der Feuerwerkskörper so eingehend erforscht wie Oscar Wilde. Natürlich ist ein Knallfrosch von völlig anderem Naturell als eine Leuchtkugel oder ein bengalisches Feuer. Oder gar eine Rakete, die weiß, dass sie am Abend noch den hellsten Stern überstrahlen wird.

„Das Einzige, was einen im Leben aufrecht erhält, ist das Bewusstsein von der abgrundtiefen Inferiorität aller anderen“, bekannte die kleine Rakete, kurz bevor sie alle gemeinsam in die Luft gehen sollten.

Die kleine Rakete hielt sich auch für viel sensibler, weshalb der Knallfrosch leise die Leuchtkugel fragte: „Was ist denn das, ’n sensibles Wesen?“ Die Leuchtkugel erklärte, ein sensibles Wesen sei jemand, der Hühneraugen hat und zur Strafe allen anderen auf die Füße tritt. Dem Knallfrosch leuchtete das ein.

Dass die größten Knaller immer die größten Knaller zünden, ist ein uralter, nie ganz widerlegter Verdacht. Neu aber sind in diesem Jahr drei Böller-Verbotszonen in Berlin. Doch René Rüdiger ist skeptisch, ob man Knallfrösche mit Verboten bekämpfen kann.

Rüdiger ist Pyrotechniker, seine Firma heißt „Pure Illusion“. Nicht nur der Knallfrosch, das Feuerwerk überhaupt hat gerade einen Tiefpunkt seiner öffentlichen Reputation erreicht.

Triumph der Feuerwerkskunst

Seine Gegner argumentieren etwa so: Wahrscheinlich werden wir nie wieder „Prima Klima“ sagen können, machen aber trotzdem den Himmel bunt und beginnen das neue Jahr so mit einer Feinstaubbelastung, dass man es schon am ersten Tag nicht mehr riechen mag. 4200 Tonnen Feinstaub könnten in der Silvesternacht in der Luft sein, deutschlandweit.

Rüdiger hebt die Augenbrauen zu zwei Bögen nachsichtiger Skepsis, wie sie Leute zeigen, die sich berufshalber in der Defensive befinden. Er ist zwar Feuerwerker, aber keiner, der es krachen lässt. Eher gleicht sein Temperament dem des bengalischen Feuers bei Oscar Wilde.

Das bengalische Feuer korrigiert ruhig die kleine Rakete, als diese berichtet, wie die Zeitungen bei der Zündung ihres Vaters, der berühmtesten französischen Rakete seiner Zeit, von einem „Triumph der Feuerwerkskunst oder Pyrotechnik“ gesprochen hätten.

Das bengalische Feuer gab zu bedenken: „Pyrotechnik meinen Sie, ich weiß, dass es Pyrotechnik heißt, denn so stand’s auf meinem eigenen Behälter.“ Aber was will man machen als Pyrotechniker gegen die Halbbildung?

Den Feinstaub der Feuerwerkskörper kann man mit dem vom Auto verursachten nicht vergleichen, sagt Rüdiger. Auto-Feinstaub ist salziger, giftiger und verschwindet auch nicht so schnell wie Ruß. Aber den Feinden des Feuerwerks ist das egal.

Ohnehin wird wohl keine Zeitung je wieder vom „Triumph der Pyrotechnik“ sprechen. Obwohl Rüdiger dieses Gefühl sehr gut kennt, genau wie die kleine Rakete. Was sie da machen, ist Kunst, wissen Rüdiger und Wildes kleine Rakete. Es ist ein hochpräzises quasi-astrales Sich-Verschwenden am Himmel.

Der wahre Künstler praktiziert in einer Umgebung, die ihn nicht verrät. Vor Rüdiger stehen in einem Oranienburger Büro zwei Bildschirme. Rüdiger entwirft darauf gerade das Silvesterfeuerwerk für die Musikakademie Rheinsberg.

Das Primäre am Feuerwerk ist natürlich die Musik, weiß Rüdiger. Insofern zählt der Böllerwerfer, der noch die zarteste Melodie mit plumpen Detonationen schreddert, zum Feindbild des wahren Feuerwerkers.

Beethoven?, fragte vorsichtig und mit Blick auf das zu begrüßende Jahr die Musikakademie Rheinsberg. Aber natürlich habe er die freie Wahl. Man darf einem Künstler keine Vorschriften machen.

Einmal ein Feuerwerk auf eine Rammstein-Melodie komponieren

Rüdiger wollte schon immer mal ein Feuerwerk auf die Melodien von Rammstein komponieren, denn es gäbe keine Musik, die nicht zu einem Feuerwerk passe, erklärt er, um sich sofort zu korrigieren: außer Händels Feuerwerks-Musik natürlich.

Barock geht nicht, in dieser Musik herrscht zu viel Ordnung, und Ordnung ist per se undramatisch. Außerdem denkt ein Feuerwerker schon von Berufs wegen höchst ungern an Händels Feuerwerks-Musik, denn sie erinnert daran, was alles schiefgehen kann.

Komponiert zur Feier des Endes des Österreichischen Erbfolgekrieges im Aachener Frieden, sollten am 15. Mai 1749 in London zuerst 101 Salutschüsse erklingen, als Signal für Musik und Feuerwerk.

Aber die Schüsse kamen nicht, das Feuerwerk weigerte sich, im Dauerregen aufzusteigen, der aber nicht verhindern konnte, dass die halbe Bühnenkonstruktion abbrannte. Nur die Feuerwerksmusik erklang, allerdings ohne Streicher. Die hatte König Georg II. Händel gestrichen.

Der Berliner Feuerwerkskünstler René Rüdiger.
Der Berliner Feuerwerkskünstler René Rüdiger.

© Kerstin Decker

Also Rammstein? Musik auf der Grenze von Post-Sinfonie und Dauer-Detonation. Rüdiger hatte schon mal ein Hochzeitspaar, das ein Rammstein-Feuerwerk bei ihm bestellt hatte, aber im letzten Augenblick wollte die Braut doch lieber etwas anderes hören.

Eine Scheidung klingt wie Rammstein, aber keine gelingende Ehe. Das war die Klugheit der Braut. René Rüdiger hätte der Kammerakademie gegenüber erwähnen können, Rammstein sei die Band des Jahres 2019 und darum nehme er die. Doch seine Klugheit empfahl ihm Beethoven.

Als Opener hat Rüdiger Beethovens König-Stephan-Musik gewählt, dazu steigen auf seinem Monitor Blinksterne und Palmeffekte auf, kurz darauf Päonien und Chrysanthemen. „Unsere Effekte tragen fast alle Blumennamen“, sagt der Pyrotechniker fast ein wenig entschuldigend.

Blüten aus Schießpulver! Wie hybrid. Das Feuerwerk wäre demnach, wie der Mensch überhaupt, eine Kreuzung zwischen Blumen und Krieg, zwischen dem Zartesten und dem Brutalsten.

Profifeuerwerker zünden „Bomben“

Wenn die Profifeuerwerker ihre Blüten zünden, dann zünden sie keine Raketen. Mit Oscar Wildes kleiner Rakete kann der Pure-Illusion-Mann trotz verwandter Mentalität nicht viel anfangen. Die Steighöhen von Raketen sind nicht präzise bestimmbar und sie lassen sich vor allem nicht auf Millisekunden genau abschießen.

Profifeuerwerker zünden „Bomben“. Und die kommen aus Abschussrampen. Alle Effekte der Zivilisation sind, auch das eine alte Ahnung, Abfallprodukte der Militärtechnik. Daher sagte man früher über eine Person, die nicht in Verdacht stand, das Pulver erfunden zu haben, sie habe wohl kaum das Pulver erfunden.

„Das Pulver“ ist das Schwarzpulver. Es ist noch heute in all unseren frei verkäuflichen Feuerwerkskörpern, nur in den illegalen ist was anderes. Blitzknallsätze, „Polen-Böller“, gemischt aus Kaliumperchlorat und Aluminiumpulver, ungemein laut, ungemein verboten.

Ohne Schwarzpulver keine Flinten und Kanonen! Und wer hat es entdeckt? Die Chinesen, natürlich. Es ist eine Mischung aus 75 Prozent Salpeter, 10 Prozent Schwefel und 15 Prozent Holzkohle.

An diesem Punkt sollten wir vielleicht kurz innehalten. Als die Chinesen das Pulver erfanden, wahrscheinlich um das Jahr 1000, befüllten sie damit nicht die ersten Kanonen zum schnelleren Tod ihrer Feinde, sondern sie schossen es in die Luft, und zwar zur Ehre ihrer Toten, zum Lobpreis ihrer Vorfahren.

Die Ursprünge liegen in der Totenbestattung

Der Mensch ist das einzige Tier, das seine Toten bestattet. Wenn demzufolge alle menschliche Kultur mit der Totenbestattung beginnt, so stand am Anfang also doch nicht die Militärtechnik, sondern eine Geste der Verehrung. Das ist sehr wichtig. Das Feuerwerk zählte somit also zu den elementaren Gesten der Pietät.

In der Liste der Nachteile des Silvesterfeuerwerks ist zwar der Schrecken der Vögel und Haustiere vermerkt, dazu allerlei Schäden des Gehörs, bleibende und temporäre. Aber nirgends die Störung der Totenruhe.

Dabei müsste man vielleicht sogar von einer Totenehrung sprechen! Totenverehrung plus Abschreckung der bösen Geister. Wenn nun aber, wie jeder weiß, der böse Geist des Menschen er selber ist, hilft dann noch Knallen?

René Rüdiger schaut vom Bildschirm auf, in seinem Blick steht die klare Auskunft: Wenn er jetzt über solche Dinge nachdächte, wäre sein Rheinsberger Silvesterfeuerwerk nächstes Jahr noch nicht fertig. Im 1. Satz der 5. Sinfonie steigen bei Minute 1:40 grüne Kometen mit Feuertöpfen auf. Feuertöpfe, pot au feu, kommen schon brennend aus den Abschussrohren. In Europa werden Feuertöpfe meist in Publikumsnähe abgeschossen, so auch bei Rüdiger, die Japaner dagegen schicken sie am liebsten mit Kugelbomben in den Himmel.

Es ist merkwürdig, ein Feuerwerk zu betrachten, das noch niemand gesehen hat. Rund acht Stunden hat Rüdiger schon am Bildschirm gesessen für acht Minuten Feuerwerk, pure Illusionen, das macht rund 100 Zündungen. Rüdigers Frau betrachtet ihren Mann manchmal nicht ohne Skepsis. So viel Arbeit für ein paar Blumen am Himmel, die nur ein paar Sekunden blühen.

Also, warum das alles? Wer Rüdiger das fragt, sieht plötzlich in ein unerwartet ernstes Gesicht und er antwortet mit großer Sicherheit: Wie jeder Künstler, für den Beifall. Für den Widerschein des Feuerwerks auf den Gesichtern.

Eigentlich hat Rüdiger einen Fachhandel für Zahnarztbedarf. Doch egal was der Vertreter für Dentaltechnik auch präsentierte, nie sah er den verzauberten, dankbaren Ausdruck in den Mienen seiner Kunden. Herr Rüdiger, Ihr neuer Satz Bohrer ist wirklich umwerfend! Aber solche Bestätigungen braucht der Mensch. Und wer die nie bekommt, wirft anderen Leuten eben „Polen-Böller“ mit Blitzknallsatz vor die Füße.

Am Anfang des Böllers stand der Salutschuss. Und wer weiß, dass für ihn wohl niemals Salut geschossen wird, möchte wenigstens die Panik in den Augen der anderen lesen. Das ist Psychologie, wie das ganze Feuerwerk.

Feuerwerk und Lasershow passen nicht zusammen

Als der Dentalfachhändler René Rüdiger vierzig Jahre alt wurde, wusste er, dass er sich gratulieren musste, wie er sich noch nie gratuliert hatte. Ein halbes Jahr vorher lieh er Geräte aus, um eine Lasershow zu entwerfen.

Lasershow mit Feuerwerk! Also engagierte er auch einen Pyrotechniker. Aus seinem 40. Geburtstag zog Rüdiger zwei Lehren: 1. Feuerwerk und Lasershow passen nicht zusammen. 2. Ich will Pyrotechniker werden!

Wer es hauptberuflich krachen lassen will und Informationen über Karrierechancen als Pyrotechniker sucht, stößt auf zwei positive Nachrichten – und eine negative. Die beiden guten lauten: Die Arbeit als Pyrotechniker zählt zu einem der begehrtesten Berufe überhaupt.

Die Ausbildung zum Pyrotechniker dauert in der Regel nur wenige Tage. Die nicht so gute: Es ist beinahe unmöglich, eine Festanstellung zu bekommen. Höchstens bei sich selbst. Man lernt an so renommierten Instituten wie der Dresdner Sprengschule oder dem Sprengverein Bayern e.V.

Raketen nach Tschaikowski-Sinfonien zünden

Aber die meisten Pyrotechniker lernen ohnehin erst einmal etwas anderes. Auch Klaus Kutzer von „Feuerwerk Events Berlin“ hat nicht als Feuerwerker angefangen. Er war Glaser. Seine Maxime hieß: Immer aufpassen, dass nichts kaputtgeht! Bekommt da nicht jeder normal empfindende Mensch irgendwann das Bedürfnis, es mal richtig krachen zu lassen?

Kann schon sein, sagt Kutzer in einer Berliner Konditorei, allerdings glaube er, dass seine Neigung zur Pyrotechnik mindestens zur Hälfte musikalischen Ursprungs sei. Schon mit 14 Jahren habe er Raketen nach Tschaikowski-Sinfonien aus seinem Radio gezündet.

Aber wahrscheinlich würde er noch immer hauptberuflich „Vorsicht, Glas!“ rufen, hätte ihn nicht 1998 sein Betriebshaftversicherer angesprochen: Klaus, ich habe da einen Mandanten, der macht großes Feuerwerk und hat nichts gegen einen Assistenten! Kutzer assistierte. Denn im Unterschied zu gewöhnlichen Schulen besucht man eine Sprengschule erst, nachdem man schon alles kann.

Es gibt keine Pyro-Generalproben, nur Originale

Es gibt keine Generalprobe für Feuerwerke, es gibt nur Originale. Aber manche vergisst man nie. Etwa das zum Senftenberger Hafenfest 2017, Robbie Williams sang Sinatras „My Way“, Kutzer hatte die Zündung seinen Kollegen übergeben und sich unter die 20 000 Zuschauer gemischt.

Er sah, wie sich Menschen unter Tränen in den Armen lagen, und er dachte: Was für erstaunliche Wirkungen ich doch auf die Leute habe!

Rüdigers unvergesslichstes Feuerwerk begann so: Eine ältere Dame rief an und erklärte, dass sie 80 Jahre werde und genau wisse, was sie sich wünsche – gefolgt von einer Ermahnung: „Hören Sie nicht auf meinen Mann, egal, was der sagt, ich war noch nie klarer im Kopf. Ich will Feuerwerk!“

Und am nächsten Morgen werde sie mit ihrem Enkel die Hülsen einsammeln, auch in Nachbars Garten. Rüdiger komponierte das Feuerwerk auf Udo Jürgens’ „Dein Tag“. Am Ende weinte die ganze Geburtstagsgesellschaft.

Wie Rüdiger mag Kutzer die leisen, die langsamen Passagen eines Feuerwerks. Silvester wird Kutzer für das Hofbräuhaus gleich neben dem mit Böllerverbot belegten Alexanderplatz das Feuerwerk machen.

Ein Pyrotechniker durstet, wenn die anderen trinken

Er wird schon am frühen Nachmittag aufbauen und abends nichts trinken, während die anderen feiern. Ein Pyrotechniker durstet immer dann, wenn die anderen am meisten trinken.

Am Beethoven-Feuerwerk fehlt noch immer die letzte halbe Minute. Es ist natürlich die „Ode an die Freude“. Freude schöner was? Götterfunken? Funken! Rüdiger schaut auf, als bemerke er das zum ersten Mal. In der Mitte der Hymne des Humanums schlechthin steht also die Pyrotechnik. Pyrotechnik – und nicht der Feinstaub.

Oscar Wildes kleine Rakete ist nie in den Himmel emporgestiegen, Stern zu Stern. Sie musste beim Gedanken an ihre künftige Schönheit so sehr weinen, dass sie ganz nass wurde und nicht zündete, während all ihre Kameraden zischten, leuchteten und knallten. Am lautesten war der Knallfrosch, der wie kein zweiter wusste, was ein sensibles Wesen ist.

Zur Startseite