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Kultur: Pudding fürs Auge

Mahlzeit! Die Kunsthalle Bielefeld lädt zum „Großen Fressen“

Der Tisch ist reichlich gedeckt. Und doch kann es dem Besucher nicht wirklich schmecken. Schließlich kommt er kulinarisch kaum auf seine Kosten. Und das ist gut so. Denn verspeisen darf er hier nichts, nur mit den Augen schmausen. Das dafür reichlich. Die Kunsthalle Bielefeld lädt mit ihrer ersten großen Jahres-Ausstellung zum „Großen Fressen“.

Nicht von ungefähr zitiert der Ausstellungstitel Marco Ferreris Filmklassiker von 1972. Vier Freunde essen sich darin zu Tode. Es geht um Gier und Lust und Wahn, dankbare Themen immer schon auch für die Kunst. Der italienische Regisseur fand jedoch so brachiale Bilder für das ewige Menschheitsmotiv von Werden und Vergehen, dass der damalige Kinoschock bis heute nachwirkt: eine Tabuverletzung, die auch auf das aktuelle Kunstpublikum in Zeiten von Fitness-Wahn und Schlankheits-Terror noch ihre Wirkung haben soll.

Dabei taucht das Thema nicht erst mit Ferreri auf. Ein Jahrzehnt zuvor hatten schon die amerikanischen Pop-Artisten das Essen wieder in die Kunst geholt – nur wesentlich appetitlicher, als leichte Kost, die jedoch kiloschwer und in Großformaten ihren Siegeszug in den New Yorker Galerien feierte. Das Publikum, anfangs irritiert über die schamlose Verbindung zwischen trivialem Alltag und Hochkultur, zeigte sich bald begeistert. Und auch die Sammler vergaßen schnell ihre schlanke, intellektuelle Linie. Denn Popart-Bilder machen Spaß. Ungeniert malte Tom Wesselman seine Äpfel zum Anbeißen schön, appetitlich plastisch ließ er den Truthahn aus der Leinwand treten und seine „Great American Nude“ mit einer Phalanx Eisbecher und Milkshakes posieren, dass der Betrachter am Ende nicht mehr weiß, welche sublimierten Genüsse ihm nun das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Das Bielefelder Publikum darf schwelgen.

Neu ist das nicht in der Kunstgeschichte, denn schließlich schufen schon die Barockmaler visuelle Gaumenfreuden: die Tafeln überladen mit den köstlichsten Speisen, auch wenn sich bereits die ersten Fliegen niederlassen und Maden schlüpfen als Warnung vor Überfluss und Hinweis auf die Vergänglichkeit solcher Genüsse. Doch das interessiert in der Oetker-Stadt weniger, die sich mit dieser opulenten Schau ins regionale Jahresthema „Mahlzeit!“ fügt. Der zeitliche Schnitt wird mit der Popart gesetzt, mit der „Slice of Cake-School“, der Kuchenstück-Bewegung, wie ein Time-Journalist sie taufte. Süß und fettig geht es denn auch vornehmlich zu: Torten, Weißbrot mit Erdnuss-Butter, Desserts mit üppig Sahne, ein amerikanisches Schlaraffia.

Warum ausgerechnet mit den Popartisten das Essen wieder auf den künstlerischen Speiseplan kam, blieb erstaunlicherweise in der Kunstgeschichte bislang unerforscht. Auch die Bielefelder haben dazu nur eine vage Vermutung und schwelgen stattdessen lieber vom Augenschmaus, den die glitschigen „Spaghetti“ von James Rosenquist bereiten, oder versuchen die vermeintlichen Aromen seiner „Obstsalate“ zu erschnuppern. In der Abteilung „Popart“, dem im Philip-Johnson-Bau ein ganzes Geschoss gewidmet ist, mag man den Kuratoren „im Sinne eines anthropologischen Erlebnisgangs“ gerne folgen. Doch spätestens, wenn die europäische Spielart im künstlerischen Umgang mit Essen behandelt wird und es weniger kulinarisch zugeht, fehlt dem Besucher eine These. Je mehr sich die Beiträge der jüngsten Gegenwart nähern, umso willkürlicher wirkt die Auswahl und umso mehr der Erreichbarkeit von Leihgaben geschuldet, wie etwa beim Holzmodell einer Kirschensäule, die Thomas Schütte 1987 für die „SkulpturProjekteMünster“ schuf.

Dabei gibt es in den Sechzigerjahren auch in Europa in der Kunst eine plötzlich einsetzende Beschäftigung mit dem Essen. Was die beiden Bewegungen voneinander unterscheidet, kann nicht überraschen: Während die Amerikaner lustvoll der Oberfläche frönten, Essen ähnlich wie Comics und Werbung als Massenobjekt schilderten, knüpften die Europäer wieder an den Vanitasgedanken der Barockmaler an und zeigten Nahrung im Zerfall begriffen.

Ein eigener Raum ist Dieter Roth gewidmet, der zunächst das Porträt seines Sammlers mit Schmelzkäse malte, um ihn zu ärgern, dann jedoch den Verfallsprozess zu seinem Thema machte und fortan mit Schokolade, Wurst, Käse, Milch als Schimmelobjekten arbeitete. „Kunstwerke sollen sich wie Menschen ändern, älter werden und sterben“, lautete sein Credo. Ekel erregend wie in den Sechzigern wirkt das alles nicht mehr. Stattdessen betrachtet man neugierig die Hülsen toter Larven und stellt restauratorische Überlegungen an.

Dass der 1998 verstorbene Roth trotzdem das Zeug zum Zeitgenossen hat, verrät seine schon 1981 formulierte Idee von einem verfaulenden Fleischhaufen als Ausstellungsobjekt: „Die Fliegen legen die Eier, fressen das Fleisch, und wenn das Fleisch nicht mehr da ist, dann fressen sie sich gegenseitig.“ Verwirklicht hat es Damien Hirst mit seiner Installation „A Thousand Years“, die fast exakt dieser Versuchsanordnung folgt. Von Hirst fehlt zwar dieses spektakuläre Werk, dafür sind seine „15 Sausages“ in Formaldehyd zu sehen. Auch darin ist der junge Brite Roth erstaunlich nahe, der „Literaturwürste“ zu produzieren pflegte, wenn ihm ein Lesestoff zuwider war. So liegen in Bielefeld der „Daily Mirror“ und „M (Zeitschrift für den Mann)“ zerhäkselt als Würste in einer Vitrine.

Wenn Beuys, Manzoni, Spoerri mit Lebensmitteln operieren, ihre Vergänglichkeit thematisieren, so geht es ihnen immer auch um den metaphysischen Charakter. Für sie war Essen keineswegs Überflussobjekt wie für die Popartisten, die Hunger kaum erfahren hatten und statt der individuellen Erfahrung den konfektionierten Standard meinten. „Alle Cokes sind gleich, alle Cokes sind gut. Liz Taylor weiß das, der Präsident weiß das, der Penner weiß, und du weißt es“, lobte Warhol die demokratischen Qualitäten des Softdrinks.

Dass hinter den süßen Genüssen auch Abgründe lauern, lassen die Pudding überfluteten Lebkuchen-Landschaften des Post-Popartisten Will Cotton erahnen. Die junge britische Videokünstlerin Sam Taylor-Wood spürt hingegen ganz europäisch dem realen Verfall eines altmeisterlich arrangierten Früchte-Stillleben nach. Alte und neue Welt sind nun gemeinsam im Überfluss angekommen, für beide ist gleichermaßen gerichtet. Der Betrachter kann sich je nach Geschmack reichlich bedienen.

Kunsthalle Bielefeld, bis 24. April. Kat. 20 €.

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