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Kultur: Pullover allover

Häkeln, Klöppeln, Sticken, Makramée – Handarbeit soll ja so beruhigend sein. Die Nummer eins vor deutschen Fernsehern ist jedoch das Stricken, nicht zuletzt aufgrund praktischer Erwägungen.

Häkeln, Klöppeln, Sticken, Makramée – Handarbeit soll ja so beruhigend sein. Die Nummer eins vor deutschen Fernsehern ist jedoch das Stricken, nicht zuletzt aufgrund praktischer Erwägungen. Dennoch: Wie tragbar selbst produzierte Strümpfe, Schals und Pullover sind, hängt entscheidend von ihrer Form und Farbe ab. Ästhetische Fragen, die Leo eher egal sind – dem kleinen Terrier, der dank Frauchens Hundepullovern durch den rauen New Yorker Winter kommt. Frauchen, das ist die US-Künstlerin Ellen Banks . Sie hat beim Mondrian-Weggefährten César Domela studiert und überträgt ihre von Jazz und „de Stijl“ inspirierte Malerei auf handgestrickte Hundepullover (150 Euro). In der Galerie Open schweben sie an Nylonfäden, über hundert Unikate, in denen Banks ihre Freizeitexzesse, Mode und Konstruktivismus aufs Merkwürdigste miteinander verknüpft (bis 17. März, Legiendamm 18–20). Fehlen nur noch Leo und andere Vierbeiner, die solche Crossover-Kunst auf die Straße tragen.

Patricia Waller häkelt. Keine Topflappen, sondern Computerbildschirm-Oberflächen oder TV-Störbilder, aber auch Dreidimensionales, mit dem sie ihre vierte Einzelausstellung in der Galerie Deschler bestreitet (bis 29. April, Auguststraße 61). Um große Gerüste aus Styropor, Holz und Draht spannt sich eine knallfarbige Häkelhaut, die ihren Skulpturen das comic-artige Aussehen gibt (1200 bis 60 000 Euro). Kleine Multiple-Gespenster lutschen am Schnuller, und ein lebensgroßer Vogel Strauß steckt den Kopf in das Dunkel der Wollknäuels.

Im Dunkeln bleibt allerdings der künstlerische Mehrwert dieser Häkelei, auch wenn Waller der selbst gestrickten Niedlichkeitsfalle durch gezielte Grausamkeiten zu entgehen sucht – so wird Quietscheentchens Stirn vom Pfeil durchbohrt und Teddy mit der Handsäge geköpft. Blut fließt in dicken Fäden. Gewalt als Masche.

Mike Kelleys Kuscheltier-Cluster wirken im Vergleich dazu wirklich unheimlich. Und auch der Amerikaner Kent Henricksen irritiert mit seinen schwindelerregenden Leinwänden, die zurzeit bei Atle Gerhardsen zu sehen sind (bis 20. März, Holzmarktstraße 15–18). Die Bildcollagen setzen sich aus aufgedruckten Renaissance- und Barockzitaten zusammen und werden durch Stickereien ergänzt (5500 bis 12 200 Euro). Henricksens Bilderrahmen (die zugleich Stickrahmen sind) wirken wie Fenster, die sich zu absurden Himmeln öffnen. Darin türmen sich Wolken aus Dürer-Stichen, allegorische Windgötter pusten regenbogenfarbenes Garn ins Bild, überall fliegen, trudeln, stürzen Menschen ins Bodenlose.

Hier blitzt der „Funke Poesie“, der laut Max Ernst zwischen den disparaten Elementen einer Collage überspringen soll. Und: Ausgangsmaterial ist historisches französisches Stoffdekor – Beispiel früher Massenfertigung im 18. Jahrhundert. Indem er diese „Toile de Jouy“-Stoffe mit oft winzig feinen Stickereien kombiniert, weist Henricksen auf ein zentrales Thema der Moderne hin: der Arbeitsteilung von Mensch und Maschine. Moderne Kunst oszilliert im Spannungsfeld zwischen Industrie und Handwerk – „Needlework“ natürlich eingeschlossen.

Jens Hinrichsen

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