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Kultur: Punkt, Komma, Kontrapunkt

Andras Schiff beschließt seinen Bach-Zyklus

Von Gregor Dotzauer

Es gehört zu den musikhistorischen Binsenweisheiten, dass Bach mit dem „Wohltemperierten Klavier“ den letzten Geniestreich einer von individuellen Affekten gereinigten, scholastisch geprägten Pianoliteratur schrieb – und Beethoven mit den Klaviersonaten den gewaltigsten, nur mühsam formgebändigten Aufschrei der hoffnungslos zerklüfteten, subjektivierten Seele. Mit anderen Worten: Bachs Musik hat etwas Unpersönliches, Beethovens Musik ist von Schicksalhaftigkeit durchtränkt.

Andras Schiff hat in seinem Pianistenleben die Welt von beiden Polen aus inspiziert und Universalität hier wie dort entdeckt. Vielleicht hat er sich auch deshalb nie auf eine Seite schlagen können: Was er Beethoven an heroischem Gestus verweigert, gewinnt er Bach an melodiösem Lächeln und tänzerisch auftrumpfendem Temperament ab.

Auch der zweite Teil des „Wohltemperierten Klaviers“, den Schiff zum Abschluss seines Bach-Zyklus am Dienstagabend im Kammermusiksaal spielte, meidet die Extreme. Schiff tut nicht so, als seien Bachs polyphone Strukturen Ausdrucksmusik, obwohl sie zwangsläufig etwas ausdrücken. Er mutet ihnen nicht zu, als Charakterstücke aufzutreten, obwohl sie alle ihren je eigenen Charakter haben. Und er stiftet zwischen ihnen eine Spannung und einen Zusammenhang, den dieses riesige mixtum compositum eigentlich nur durch die halbtonweise durch die Oktave vorrückende Abfolge der Stücke simuliert: Nicht einmal die zu einer Tonart gehörenden Präludien und Fugen sind erkennbar aufeinander bezogen. Bachs Spätwerk mit der „Kunst der Fuge“ und dem „Musikalischen Opfer“ macht es einem da durch die Schlichtheit des Ausgangsmaterials leichter.

Schiff lässt die quasimathematischen Konstruktionsprinzipien, die diese Musik in sich trägt, hinter sich, und schreckt zugleich vor dem erhabenen Schimmern, das aus ihnen entsteht, zurück. Er ist zugleich supradidaktisch und subtranszendent. Die Fugen wachsen und blühen auf bis zu Vierstimmigkeiten, die Bässe in den Präludien murmeln ihr Lied, die Mittelstimmen zeigen Muskeln und wenn Schiff Staccato–Themen aus der Tastatur stanzt, kann es vorkommen, dass es vor Freude in einem juchzt und zuckt.

Doch endorphine Glücksherstellung ist nicht Schiffs Angelegenheit. Wenn am einen Ende der Bach-Interpretation die Nähmaschinen rattern und am anderen der Klang im Gebet verhallt, so schreckt er auch hier vor übertriebenem Engagement in beide Richtungen zurück.

Er sitzt mit deutlicher Entfernung zum Flügel, sodass er mit der Musik gar nicht körperlich verwachsen kann. Beide Beine sind sorgfältig aufgestellt, Pedalgebrauch hat er sich strikt verboten. So entschieden er also in diesen Fluss steigt und sich dem motorischen Gedächtnis hingibt, das ihn nur in den letzten Minuten des zweieinhalbstündigen Exerzitiums sekundenlang verlässt, so schnell gelangt er auch wieder an Land. Die Rationalität des Bach’schen Kontrapunkts ist sein Anker – anders als bei Beethoven, der ihn am selben Ort schon schweißtreibender durchgeschüttelt und ausgequetscht hat. Ovationen. Gregor Dotzauer

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