zum Hauptinhalt
Der Morgensegen. Eine Zeitung kann man nicht nur lesen, man kann mit ihr auch lesen lernen. Und eine Menge anderer Dinge anstellen.

© picture alliance / Horst Ossinge

Qualitätsjournalismus: Vom Geist der Zeitung

Immer von gestern, immer von morgen: Warum die guten alten Printzeitungen unter Druck sind, aber auch in der Parallelwelt der digitalen Ära überleben.

Das Wort „Zeitung“ war im früheren Sprachgebrauch auch einmal gleichbedeutend mit dem Wort „Nachricht“. Wer gute Nachricht brachte, war willkommen. Wer freilich eine gute Zeitung machte, brauchte mehr. „All the News That’s Fit to Print“ ist seit 1896 der Leitspruch der „New York Times“, bis heute die angesehenste Zeitung der Welt. Wobei im Journalismus häufig auch die Devise gilt „Bad news are good news“, weil genau wie im Roman, in den Künsten, im Krimi das Katastrophische und Unheimliche meist das Spannendere ist und stärker die Neugier weckt. Ein Problem allerdings stellt sich den Zeitungen, seit Jahren sogar der „New York Times“, wenn die bad news die Voraussetzungen der Presse selbst betreffen.

Das Nachdenken in den großen und kleineren Verlagshäusern hatte schon lange vor den jüngsten schlechten Nachrichten über die wirtschaftliche Situation von Blättern wie der „Frankfurter Rundschau“ oder der „Financial Times Deutschland“ begonnen. Es herrscht Druck auf den Druckmedien. Print hat dabei das für selbstverständlich genommene Primat vor allem bei jüngeren Nutzern der digitalen Medien eingebüßt. Mit der Geschwindigkeit, in der Nachrichten von den (eigenen) Onlineredaktionen oder von den sozialen Netzwerken in beinahe Echtzeit rund um die Uhr und den Globus verbreitet werden, kann keine gedruckte Zeitung konkurrieren.

Noch im gerade vergangenen Jahrzehnt hieß es freilich: Online ist der aktuelle Schnellschuss, sozusagen der Glanz des Bildschirms, der flachen, glatten, Oberfläche. Den Tiefgang, die nachhaltige Analyse und Reflexion des Nachrichtlichen liefere dagegen die am nächsten Tag (oder schon am frühen Abend) erscheinende Zeitung. Zwar stellen die meisten Redaktionen den Inhalt ihrer gedruckten Zeitung auch ganz oder teilweise ins Netz. Doch die vertiefende Lektüre, so der Eindruck, so die Selbstsuggestion, sie finde noch immer analog, auf Papier, im Geiste der Gutenberg-Ära statt.

Bei vielen Menschen trifft das auch weiterhin zu. Es sind meist Menschen, die auch ein Buch noch lieber physisch, haptisch und in ihrem Sinne sinnlicher in der Hand und vor Augen haben. Doch diese alte Lese-Kultur konkurriert jetzt mit der elektronischen Kultur, die kein virtueller Schein mehr ist, sondern sehr real. Auf Tablets, Smartphones, in E-Books, mit E-Papers und auf dem PC sowieso. Dort erscheinen oft genug die genau selben Texte wie auf dem Papier. Die These, dass komplexere Darstellungen auf der digitalen Oberfläche weniger tiefsinnig wirken oder weniger einprägend verstanden werden, hat eher schwindende Überzeugungskraft. Wahrnehmungspsychologie und Rezeptionskultur einer Gesellschaft wandeln sich mit den technischen, faktischen Veränderungen. So geht die Beschwörung, dass der reflektierende, auch sprachlich anspruchsvolle Journalismus ebenso wie die poetische oder wissenschaftliche Literatur ein Vorrecht des gedruckten Worts seien, immer mehr ins Leere.

Vor Jahrzehnten, als es den Volkswagen nur als den runden Käfer gab, schaltete VW in den USA großformatige Zeitungsanzeigen, die nichts als ein Hühnerei zeigten. Darunter stand der Satz: „Es gibt Dinge, die man einfach nicht verbessern kann.“ Inzwischen existiert noch das Ei, aber der Käfer ist Vergangenheit.

Selbst in einer Welt der Bilder, des Films, des Fernsehens und der Fotografie galt bis vor Kurzem einem Wimpernschlag der Geschichte: Etwas Vollkommeneres als das gedruckte Buch und die gedruckte Zeitung konnte sich die alphabetisierte Menschheit als Verkörperung von Texten und als Verdichtung und Verfestigung von Ideen und Gedanken kaum vorstellen.

Trotzdem hinkt der spielerische Vergleich mit Käfer und Hühnerei. Denn die Zeitung, gleich, ob auf Papier oder digital übertragen, wird noch lange nicht verschwinden, so wenig wie das richtige Buch. Und das liegt nicht nur an dem in Deutschland – verglichen mit den meisten anderen Staaten – besonders weit verbreiteten „Qualitätsjournalismus“.

Online und Print arbeiten wie kommunizierende Röhren

Reflexion und Recherche, Information durch kundige, unerschrockene Investigation, das Wägen und Werten der Nachrichten aus dem von Einzelnen, von Gruppen, Institutionen und diversen Interessenten gefluteten Netz. Die politische und kulturelle Orientierung der Gesellschaft gehört natürlich zum professionell exzellenten Journalismus. Ist seine Voraussetzung – ob Print oder Online. Trotzdem hat die jeden Tag als Kompendium und Komposition neu in Form gebrachte Zeitung als Ganzes noch eine besondere Qualität.

Online und Print sind keine notwendige Konkurrenz, sie arbeiten oft wie kommunizierende Röhren, markieren immer mehr journalistische Parallelwelten, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied. Gute Onlineredaktionen kanalisieren den Zeitfluss. Laufend, mitlaufend, mitreißend. Die Zeitung, die Hegel einst den „realistischen Morgensegen“ nannte, ist zwar ein Spiegel der Zeit. Aber sie ist auch: ein Einspruch gegen die Zeit. Sie hält den Zeitfluss symbolisch an. Das erscheint auf Anhieb widersinnig, macht aber ihren Eigensinn erst aus.

Die Zeitung von heute ist ja immer von gestern. Wenn die elektronischen und digitalen Medien auf die Direktübertragung oder die (beinahe) Echtzeit setzen, dann ist das ihr gutes Recht und Metier. Die spätere, buchstäblich re-flektierende Zeitung aber erfüllt ein kulturell und vielleicht sogar anthropologisch tief verwurzeltes Bedürfnis, das gerade Vergangene in eine, und sei’s nur für einen Tag, vergewissernde Form zu bringen. Haben wir sogar „live“, und sei’s nur im Fernsehen, ein dramatisches politisches Ereignis, ein Erdbeben, einen tollen Weltmeisterschaftskampf oder eine große Aufführung auch selbst erlebt, dann wollen wir es am nächsten Tag doch noch mal nachlesen. Es gibt den Satz, erst durch Literatur und Kunst gewinnt die undurchdringliche, wimmelnde Wirklichkeit ihre wahre Gestalt und Realität. Das scheint auch für das Wort und Bild der Zeitung zu gelten.

Sogar die Börsenkurse im Wirtschaftsteil der Zeitungen werden täglich (und nicht nur von Laien) gelesen, obwohl sie doch zum Zeitpunkt der Lektüre längst wieder im Fluss und überholt sind. Offenbar aber brachen Menschen, trotz Liveticker, zum Nach-Denken und zur (Selbst-)Vergewisserung das symbolische Innehalten. Die kurze Zäsur, die die Zeitung täglich markiert.

Es ist ein bisschen so, als erfülle sich der Wunsch von Goethes Faust, wenn er dem Augenblick zurufen möchte: „Verweile doch, du bist so schön!“ Oder so schrecklich schön, wenn die Zeitung den Leser immer aufs Neue mit Krieg, Tragödien, Dramen in aller Welt konfrontiert.

Natürlich ist das Verweilen ein notwendiger Trugschluss. Wie alle Ewigkeit. Aber auch die Echtzeit ist nie ganz echt und alle Gegenwart schon im Moment ihrer Benennung wieder vergangen. Botho Strauß, der mit als erster deutscher Dichter Computer benutzt hat, vor den meisten Journalisten, und der das Internet vorhersah, er spricht von „Gegenwartsnarren“. Und der Lyriker Günter Kunert hat, insoweit unübertrefflich, geschrieben: „Glück ist / gestern oder morgen.“

So ist die Zeitung immer von gestern und, wenn sie die über die eben vergangene und auch heute wieder flüchtige Gegenwart orientiert, ein Stück weit von morgen. Zukunft braucht Herkunft, sagt der Philosoph Odo Marquard. Und die Zeitung braucht Zeit. Die eines kurzen Tages. Das wird sich trotz aller technologischer Beschleunigung nicht ganz ändern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false