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Kultur: Qualm über der Newa

Immer wieder ist es die Stadt ihrer Kindheit, die Olga Martynova in ihren Gedichten heraufbeschwört. "Zweieinig" erscheint der Dichterin ihr Petersburg mit den "gleich fledermäusen" hängenden Brücken.

Immer wieder ist es die Stadt ihrer Kindheit, die Olga Martynova in ihren Gedichten heraufbeschwört. "Zweieinig" erscheint der Dichterin ihr Petersburg mit den "gleich fledermäusen" hängenden Brücken. Hochmütig und alles Unschöne zurückweisend, aber auch "betrunken, gutmütig, abgeschabt". Sie sieht es, in Nieselregen und Morgendunst, vor der Folie vergangener Jahrhunderte oder aus der Erinnerung, im Gedenken an die toten Freunde: "ein kalter dachboden / meine stadt", heißt es dann, und eine kalte Sonne "qualmt über der newa". Martynova ist eine sensualistische Dichterin im besten Sinn. Ihr Blick trifft auf ein beteiligtes Inneres, so können ihre Verse kalt und warm zugleich sein. So kommt es auch, dass sie im Norden den Süden imaginiert, wie in dem wundervollen Titelgedicht ihres Bandes, wo der in einem Eimer als trockener Strauß schmachtende, der "zarte, seidige, brüchiggewordene Salbei", an die Sehnsucht nach der "sommerlichen Traube" der Provence rührt.

Olga Martynova fühlt sich, wie es sich für eine Dichterin gehört, eins mit allen Dingen, die sie schaut: mit den Zypressen, mit den Sorgen eines antiken Chores oder den "kosmischen Pennern" in einem pseudomärchenhaften Himmelsgarten. "Schleppt ihr euch hinauf mit den Stufen der Krim / Hölzernen hinkenden Schritts? / Im Winter tun mir auch die Knie weh." Das geht an die Zypressen, und so lakonisch kann sie auch sein, die Martynova. Vieles in diesen Gedichten geschieht während der Nacht. Da wirft die "Göttliche Komödie" ihren Schatten auf eine nächtliche Autobahn: "Die nach vorn fahrenden Autos hinterlassen rotes Höllenlicht, / Im Gold des Paradieses strahlt die Gegenspur", und wird, während "der nächtlichen Fahrer Reden", plötzlich der ganze Wald zu einem tönenden Herz der Finsternis mit "sich ins Schulterblatt beissenden Wölfen" und "Fichten mit zuckenden Brauen". Waldtiere, Reptilien, Bäume, alles ist Olga Martynova gleichermaßen wert, bedichtet zu werden, und allen Dingen und Wesen gehört ihr ironisches Mitgefühl: "Es wird dunkel. Die Weinbergschnecken flüchten vor den Pfannen". Olga Martynova schreibt eine heiße, assoziative, zuweilen auch lakonisch gebrochene Lyrik. Mal ist der Rhythmus ihrer ausgreifenden Langzeilen forciert, mal bricht er plötzlich ab. Ihre russisch geschriebenen Gedichte hat sie, zusammen mit der Dichterin Elke Erb, selbst ins Deutsche übertragen. Vom "Dürren und Seidenen der deutschen Zunge" und vom "Brotigen, Euterwarmen der russischen Sprache" spricht Martynova in einem Gedicht. Mehrere schmale Bände ihrer Lyrik sind bisher in Russland erschienen. "Brief an die Zypressen" ist nun die erste deutsche Veröffentlichung der in Frankfurt am Main lebenden Autorin, die Tagesspiegel-Leser auch als regelmäßige Rezensentin kennen.

Volker Sielaff

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