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Kultur: Quantensprung der Zeiten

Lissabon vor der Weltausstellung: 145 Länder, so viele wie nie zuvor, haben zugesagt.Auch wenn die Bauarbeiten auf Hochtouren laufen, Modernisierung und Verfall halten sich weiterhin die WaageVON WILFRIED F.

Lissabon vor der Weltausstellung: 145 Länder, so viele wie nie zuvor, haben zugesagt.Auch wenn die Bauarbeiten auf Hochtouren laufen, Modernisierung und Verfall halten sich weiterhin die WaageVON WILFRIED F.SCHOELLER"Der erste Blick ist den Blinden vorbehalten", behauptet der Schriftsteller José Cardoso Pires in seinem "Lissabonner Logbuch".Ginge es nach ihm, könnte man hinter dem Bild, das die portugiesische Hauptstadt bietet, immer neue, andere Geheimnisse und Wunder entdecken.Aber gerade an den Geläufigkeiten, in die noch jeder Neuling von jedem deutschen Reiseführer eingewiesen wird, prallen durchdringende Blicke ab.Wer nach Lissabon kommt, weiß schon, wie er die Stadt zu sehen hat: voller saudade, mit dem Rücken zu Europa, überall Fadogesänge und traurige Poeten.Das Fluidum der Schwermut, seit altersher und von Fernando Pessoa chiffriert, hängt als Wörterdunst zwischen den Kulissen und vernebelt die Gegenwart.Haben nicht auch Wim Wenders und andere Kombattanden der teilnehmenden Beobachtung wie Hans Magnus Enzensberger die Klischees über Portugal eher befördert als zerbrochen? Es ist schwierig, über die Stadt am Tejo, über die Viertel Alfama und Baixa, über den Chiado und den Barrio Alto, über Unter- und Oberstadt etwas Neues zu sagen, ein zäher Vorstellungsfilm klebt an den Kulissen.Es sei denn, das Neue wird handgreiflich.Und dieser Vorgang wird in Lissabon gegenwärtig durchgespielt.Die Stadt hat sich als Baustelle verkleidet.Der Rossio, der belebteste Platz Lissabons, verschwindet hinter Zäunen, Riesenhäuser sind von Planen verhangen, die U-Bahn wird weitergetrieben, am Fuß der Mouraria sind ganze Straßenzüge abgerissen und durch ein Einkaufszentrum sowie einen mäßig gelungenen neuen Platz ersetzt worden.Am gegenüberliegenden Hang offerieren Ruinen und Abbruchhütten die Einsicht, daß die malerische Verfallenheit mitten in der Stadt nicht mehr zu halten war.Aber auch manche hochfliegende Architektenpläne welken dahin: Trotz aller Ankündigungen besteht das vor zehn Jahren abgebrannte Chiado-Kaufhaus, einstmals ein ausladender Glas-Palast der Waren, nur aus den brandigen, mit Eisenträgern gesicherten Außenmauern.Davorgesetzt ist seit vielen Jahren ein Vorhang, der hinter den historischen Fassaden einen modernen Mehrzweckbau verspricht.Von den 17 abgebrannten Häusern sind unter Anleitung von Alvaro Siza immerhin die meisten, unter ihnen das Grandella-Warenhaus, rekonstruiert.Auch wird der Praca do Commercio, das barocke Entree der Stadt vom Wasser her, als Parkplatz nicht mehr genutzt, und die Flaneure können nun, auf neuem Belag, der die weitläufige Fläche erstmals zusammenbindet, das hinreißende Panorama der in Rot und Weiß sich auftürmenden Stadt bewundern.Zwei Dutzend üppige Gestalten von Fernando Botero, eine Freilichtausstellung, bevölkern gegenwärtig die eine Hälfte des Platzes und zaubern Heiterkeit in die Gesichter noch jeden Spaziergängers.Aber Modernisierung und Verfall verhalten sich wie Kopf und Zahl auf der gleichen Münze.Das EU-Geld hat die Bodenspekulation angekurbelt und ein Caféhaus-Sterben eingeleitet.Das bürgerliche gediegene Martinho da Arcada mit seinem Hausaltar für den Trinker Pessoa ist bis auf einen lächerlichen Alibirest von einer Bank verschluckt worden, das dahinter liegende Restaurant als Touristenfalle ein zu meidender Ort.Der Art-Deco-Tempel am Rossio, das Nicola, ist schon lange wegen Renovierung geschlossen, aber ein Blick durchs Schlüsselloch läßt den Zweifel aufkommen, daß es jemals seine Räume aus Marmor, Chrom und Milchglas wieder erhalten wird.Fährt man nach Belem in Richtung Westen, um das Jeronimo-Kloster mit seinem manuelinischen Filigran zu besichtigen, wird die Seefahrernation ungemein präsent.Das historische Bollwerk des Torre de Belem markiert die Stelle, von wo aus die Karavellen in die unbekannten Weiten aufgebrochen sind.Im Dämmer der Klosterkirche ruht die Statue des Entdeckers Vasco da Gama gegenüber dem nationalheiligen Dichter Luis de Camoes; an einer Vierungswand thront, von zwei steinernen Elefanten getragen, der Sarkophag Heinrichs des Seefahrers.Auf dem Weg nach Belem, am fast verlassenen Pier von Alcantara, wurden vor der Nelkenrevolution von 1974 die letzten Portugiesen verschifft, die ein Weltreich sichern sollten: die Soldaten mit der Aufgabe, in den afrikanischen Kolonien die Aufständischen niederzukämpfen.Das Ergebnis ist längst Geschichte: Portugal verlor endgültig seinen Besitz in Afrika, die fast ein halbes Jahrhundert lang zementierte Diktatur brach zusammen, und die Nachkommen der Schwarzafrikaner, die ihre Unabhängigkeit erreichten, lungern als Retornados, als "Rückkehrer", auf den öffentliche Plätzen Lissabons unschlüssig und arbeitslos herum.Aufstieg und Fall der Weltmacht Portugal werden, quasi an der Straßenbahn entlang, auf dieser Strecke vorgespielt.Weit im Osten, am anderen Rand der Stadt, wo sich der Tejo zu einer Bucht öffnet, ersteht erneut eine Vision von der Landschaft der Meere.Die letzte Weltausstellung, die in diesem Jahrhundert stattfindet, ist dem Thema "Die Ozeane - Erbe für die Zukunft" gewidmet.Der Bezug auf die Vergangenheit ist jenseits des Quantensprungs der Zeiten sorgsam bedacht: genau am 21.Mai, dem Eröffnungstag der Expo, soll vor fünfhundert Jahren Vasco da Gama auf seinem Seeweg Indien entdeckt haben.Vier Monate lang wird die Weltausstellung geöffnet sein.Der Bus zu der 70 Hektar umfassenden Baustelle am Nordufer des Tejo rumpelt an einem erbarmungswürdigen Durcheinander von Docks und Containern, Elendshütten, Kasernen, Müll, an Zivilisationsbrachen und Raffinerien entlang, auf Straßen, die einem den Magen durchschütteln.Kaum jemand kennt den richtigen Weg: so viele Fragen, so viele überzeugend falsche Antworten.Die Route in die entfernte Vorstadt hat sich noch nicht eingeprägt, wie wohl das ganze Großprojekt von geübter Lissabonner Skepsis verhüllt ist.Dabei haben 145 Länder ihre Teilnahme zugesagt - so viele wollten noch nie an einer Weltausstellung teilnehmen, wo doch das Projekt der Weltausstellung an sich aus dem verjährten 19.Jahrhundert stammt, als der Internationalismus und die Warenschau noch ungesehene Attraktionen bereithielten.Die Pläne sind vielversprechend, eine rund 18 Kilometer lange Brücke über den Tejo ist schon ziemlich fertig.Das geschwungene Band verschwindet im Vorhang des Lissabonner Sprühregens.Mehrere thematisch gebundene Pavillons werden Superlative bieten.Ein Pavillon der Utopie soll Mythen der Menschheit wie den Urknall und die Arche Noah vergegenwärtigen.Ein Haus der Zukunft kann die Passanten in die weiteste Zeitenferne entführen.Der Pavillon der Ozeane, entworfen von dem Amerikaner Peter Chermayeff, gleicht einem Schiff, das in den Tejo hineingebaut ist.Der Pavillon der Meere, der von Carilho de Graca gebaut wird, mutet wie eine Schiffsbrücke an.Der Repräsentationsbau der Portugiesen wird die Geschichte der einstigen Seemacht vorstellen; ihn hat der Stararchitekt ¿Alvaro Siza Vieira entworfen.Eine U-Bahn wird den neuen Stadtteil mit der Altstadt verbinden.Ein Schienenbahnhof mit einem hinreißend filigranen Palmendachwerk des spanischen Architekten Santiago Calatrava ist so gut wie fertig.Die Dächer der großen Pavillone folgen der Wellenbewegung des Wassers, das sich an dieser Stelle zum "Strohmeer" erweitert.Ein 140 Meter hoher Turm, benannt nach Vasco da Gama, soll einen Überblick über das ganze Gelände gewähren.Ein Ozeanum, das größte in Europa, wird mit rund 15 000 Tieren bevölkert.Alle Aspekte der Meerespopulation sollen beleuchtet werden.Mindestens acht Millionen Besucher aus aller Welt sind eingeplant.Die UNESCO ist den Portugiesen entgegengekommen und hat 1998 zum "Jahr der Ozeane" erklärt.Mehr als 6000 Arbeiter schuften, damit die fünf Kilometer lange und 600 Meter breite Zone bis zum Mai auch fertiggestellt sein wird.Der Glaube an den Termin beruht auch auf der Hoffnung, daß Wünschen hilft.Portugal, dieses kleine Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern, fordert sich auf kühne Weise selbst heraus und hat sich zu dieser Probe auf Mut und planerische Phantasie 1994, nach dem Jahr als Kulturhauptstadt Europas, erst recht angestachelt.Das ganze Land kann von dieser Schau profitieren.Die sechzig Hektar Fläche werden danach in Messe- und Wohnanlagen sowie in einen städtischen Park umgewandelt - nach ökologischen Gesichtspunkten zu einem urbanen Quartier.Das zwischen sieben Hügeln eingebaute Lissabon erhält ein nobles auswärtiges Wohnviertel.Der Fehler von Sevilla, das mit seinem Expo-Gelände nach dem Großereignis wenig anfangen konnte und mit ihm eine tote Zone schuf, soll sich nicht wiederholen.Ein Fundus an Zukunft wird gebaut - vielleicht kann man damit den Schriftsteller Eduardo Lorenco dementieren, der behauptete, die Portugiesen seien "ein viel zu kleines Volk für die ungeheuer große Erinnerung, die im Lauf der Jahrhunderte in unsere Herzen zurückgeflossen ist und die uns erstickt".

WILFRIED F.SCHOELLER

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