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Mit „Simplicity“ kriegt man die Leute. Taylor Mac aus New York entwickelt seine vierteilige Show seit 2012 ständig weiter.

© Little Fang Photography

Queer durch die US-Geschichte: Taylor Mac singt sich in 24 Stunden durch 240 Jahre Pop

„A 24-Decade History of Popular Music“ ist eine bunte Gegenerzählung zum Mythos der USA. Erstmals kommt die Show nach Berlin. Eine Begegnung mit ihrem Star.

Barcelona ächzt unter zu viel Tourismus, das ist bekannt. Trotzdem gibt es immer noch gute Gründe, diese herrliche Stadt unter – allen katalanischen Autonomiesehnsüchten zum Trotz – immer noch spanischer Sonne zu besuchen. Einer davon ist das Teatre Illure („Freies Theater“), untergebracht im hochherrschaftlichen, in warmen Gelb- und Rottönen verputzten früheren Agrikultur-Palast an den grünumflorten Hängen des Hausbergs Montjuic.

Einen denkbar schrillsten Kontrapunkt zur fast erhabenen Schönheit des Hauses bildet die irgendwie geschlechtslose oder besser: universalgeschlechtliche Figur, die hier – es ist Juli, und im Teatre Illure findet gerade das „Grec“-Musikfestival statt – auf der Bühne steht.

In ihrem hell erleuchteten Pling-Pling-Kostüm wirkt sie wie eine Kreuzung aus Erzengel Michael, Bob Marley und Weihnachtsbaum. Und sie spricht auch, sagt böse Sachen wie: „Wir haben den Gay Pride Day, aber wusstet ihr, dass es auch einen – oder sogar viele – Heterosexual Pride Days gibt? Sie heißen Fußballweltmeisterschaft, oder, wenn euch das besser gefällt: Kriege!“

Das katalanische Publikum johlt, ist total „dabei“. Und das, obwohl Taylor Mac – der Performance-Künstler, der sich hinter der Maske versteckt – noch nie hier war, in Europa kennt man ihn kaum, anders als in seiner Heimatstadt New York.

Ein Grund mehr, ab Donnerstag ins Haus der Berliner Festspiele zu pilgern. Dort wird Mac seine Show „A 24-Decade History of Popular Music“ – von der in Barcelona eine gekürzte Fassung lief – zum ersten und einzigen Mal in Europa in voller Länge präsentieren: 240 Jahre Popmusik, jedem Jahrzehnt ist eine Stunde gewidmet.

Eine Geschichte der Vernachlässigten und Vergessenen

Richtig gerechnet: Die Show dauert 24 Stunden. Allerdings aufgeteilt auf vier Abende à sechs Stunden. Immer noch viel, aber im Frank-Castorf-gestählten Berlin für die meisten wohl ein Klacks. Überhaupt spricht hier – siehe auch „The Long Now“ bei Maerzmusik – Länge nicht gegen, sondern für eine Veranstaltung.

Macs Show, die er seit 2012 mit seinem musikalischen Leiter Matt Ray ständig weiterentwickelt, dreht sich um die Geschichte der Popmusik – der früheste Song „Black Is The Color Of My True Love's Hair“ ist eine volkstümliche Ballade aus dem 18. Jahrhundert –, doch sie ist viel mehr als das: eine Geschichte der Vereinigten Staaten, erzählt anhand ihrer Musik.

Eine Geschichte der Vernachlässigten und Vergessenen, der Gegenkultur, der Sklaven, der Schwarzen, der Frauen, der Schwulen. Eine liberale, so queere wie feministische Gegenerzählung. Taylor Mac – der als Pronomen nicht „er“ oder „sie“, sondern ein kleingeschriebenes „judy“ bevorzugt, aus Bewunderung für Judy Garland – kann auf der Bühne lauernd und bösartig sein, impulsiv, herrisch, aber auch völlig gelassen und zugänglich, ein Energiebündel als Sympathieträger.

[Haus der Berliner Festspiele, 10., 12., 18. und 20. Oktober, jeweils 18 Uhr]

Im Gespräch zeigt judy sich auch ganz reflektiert: „Klassische Musik ist für mich der Versuch, Gott zu berühren, etwas, das größer ist als ich. Pop oder Popular Music hingegen ist für die Menschen gemacht: kleine Fehler, imperfekte Rhythmen, die simple Struktur. Mit ,Simplicity‘ kriegt man die Leute immer.“ Um dann herzhaft zu lachen: „Ich singe im Laufe der Show hunderte Songs. Die werden definitiv nicht alle perfekt sein.“

Obwohl 1973 in Kalifornien geboren, ist Mac ein Spross des New Yorker Kunst- und Theateruniversums. Mit 21 zog er nach Manhattan, um an der American Academy of Dramatic Arts zu studieren, doch früh wollte er sich nicht in Schubladen einordnen lassen, riss Genre- und Gendergrenzen nieder.

„Wer in den USA Schauspieler oder Schauspielerin werden will, weiß oft gar nicht, dass es mehr gibt als Broadway und Hollywood.“ Mac begann, die Theater- mit der Clubwelt zu fusionieren, trat mit Ukulele auf, wurde zu einer Hybridfigur aus Schauspieler, Stückeschreiber und Performancekünstler.

Blickt judy heute auf Greenwich Village, einstiges Herz der schwulen Community New Yorks, trübt sich der Blick in einer Mischung aus Trauer und Zorn: „Früher konnte man in jedem Coffee Shop Freunde treffen. Das ist vorbei. Die Hedgefonds haben alles zerstört. Schwules Leben in New York dreht sich nur noch um Immobilien.“

Kein Wunder, dass die offizielle, durchkommerzialisierte World Pride Parade judys bevorzugtes Hassobjekt darstellt: „Warum tun wir das, laufen in Markenklamotten herum wie Rinder, die man gebrandmarkt hat?“

Auch kein Wunder, dass Taylor Mac kräftig die Gegenbewegungen unterstützt, die sich gegen die restlose Verkapitalisierung des schwulen Freiheitskampfes formieren: Beim Queer Liberation March, der am 30. Juni zum 50. Stonewall-Jubiläum stattfand, war judy dabei: „Es kamen 45.000, wirklich enorm. Nur Drums haben gefehlt. Wir brauchen mehr Musik.“

Er kann sich weder mit Donald Trump noch mit Meryl Streep identifizieren

Von der gibt es in der Show reichlich, alles arrangiert von Matt Ray. Die Hymne der Heterosexuellen – „Born To Run“ von Bruce Springsteen – trifft auf die Hymne aller Queers – „Gloria“ von Laura Branigan –, was brutal sein könnte und trotzdem gar nicht weh tut, wenn Taylor Mac es singt.

Brutal sind auch judys Attacken auf die „Dictators“, die Lügner und Rechtspopulisten, die überall auf der Welt gerade die Demokratien kapern wollen. Trotzdem: Um Politik, tagesaktuelle zumal, geht es nicht. „Für das Beste an den USA steht Meryl Streep, für das Schlechteste Donald Trump, doch ich fühle mich weder von der einen noch dem anderen repräsentiert“, ruft Mac in Barcelona in den Saal.

Noch lieber holt er die Leute auf die Bühne. Denn judy stemmt die Show nicht alleine, das ganze Publikum ist involviert, und die große Kunst des Amerikaners besteht darin, dass auch alle mitmachen: „Kommt, wir spielen jetzt eine Schwulenbar! Da kommt schon das Freibier.“

Tatsächlich schiebt ein Mitarbeiter Dutzende eisgekühlter Estrella-Dosen auf die Bühne, ein starkes Argument. Nach ein paar Minuten tanzen völlig Fremde Arm in Arm miteinander. Eine eigenwillige Interpretation des aktuellen Leitbilds der Berliner Festspiele von der „Immersion“, aber sie funktioniert. „Wenn was schiefgeht“, erzählt Taylor Mac, „und jemand nicht so reagiert wie erwartet, dann fängt der Spaß überhaupt erst an.“

Kernbegriff von Taylor Macs Kunst ist „Consideration“. Wie soll man das übersetzen? Rücksichtnahme? Aufmerksamkeit? Zugewandtheit?

Es ist von allem etwas, es geht darum, den anderen, die andere wahrzunehmen, zu schätzen, dem Hass, dem Rückzug auf die eigene Scholle etwas entgegenzusetzen.

„Im Moment triumphiert die weiße Rechte, aber es ist eine Panikreaktion. Weil sie wissen, dass sie immer weniger werden. So gesehen ist Trumps Wahl ein gutes Zeichen.“

Mit diesen hoffnungsvollen Worten entlässt Taylor Mac den Gesprächspartner hinaus in die Nacht. Und hat noch eine Bitte ans Berliner Publikum: „,A 24-Decade History‘ verteilt sich zwar auf vier Abende, „aber es sollen nicht alle erst zum letzten Teil am 20. Oktober kommen, weil sie denken, dann kennen sie die Songs.“ Die Show wirkt in ihrer Gesamtheit, und wer erst zum Schluss kommt, könnte sich am Ende ganz schön ärgern.

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