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Kultur: Rache und Ratio

Und wir meinten, so fängt ein Krieg nicht an: Was vor einem Jahr gedacht, gefühlt und geschrieben wurde

Von Harald Martenstein

„Der 11. September 2001, gestern, ist ein Tag gewesen, der unsere Kultur verändert hat – die Art, wie wir die Welt sehen, die uns umgibt, unser Gefühl dafür, was möglich ist und was unmöglich, unser Gespür für die Grenze zwischen Realität und Fantasie. Es ist der erste schwarze Tag des neuen Jahrtausends.“ Diese Sätze sind drei oder vier Stunden nach den Anschlägen geschrieben worden, sie standen im Tagesspiegel vom 12. September. Als Autor ist es einem heute ein bisschen peinlich, diese Sätze zu lesen, im Abstand eines Jahres – sie klingen so pathetisch. Und sie stimmen auch nur zum Teil. Unsere Kultur, unsere Art, die Welt zu sehen: Hat sich das wirklich verändert?

Als wir, die Analysier- und Einordnungsprofis, uns an unsere Computer setzten, so aufgeregt und verwirrt wie jeder andere, nur eben mit dem Job, etwas Vernünftiges daraus zu machen, mischten sich bei jedem auf die eine oder andere Weise zwei oder drei Gefühle. Man spürte Mitleid und Solidarität, bezogen auf die Opfer und die USA im Allgemeinen. Man hatte Furcht vor dem, was kommt. Und man spürte, dass man sich den eigenen starken Gefühlen nicht überantworten durfte. Die Täter waren zweifellos sehr wütend, sehr hasserfüllt. Das sprach dafür, die eigene Wut im Zaum zu halten.

„Rationalität ist das, was unsere Kultur dem Fanatismus entgegensetzen kann, unsere schärfste Waffe. Die Vernunft macht uns nicht schwach, sie macht uns stark. Seit dem Mittelalter hat die Vernunft schon so viele Schlachten gegen den Fanatismus geführt, der in immer neuen Kostümen auftritt, manchmal sogar im Kostüm der Vernunft selbst, und am Ende hat die Vernunft meistens gewonnen... Auch jetzt müssen wir kühl bleiben und uns an unsere Prinzipien erinnern, diese guten alten Freunde, die wir an anderen Tagen nur noch ironisch zitieren, an Liberalität, an den Rechtsstaat, an Toleranz. Diese fehlbare, mangelhafte, angreifbare westliche Kultur, deren Hauptstadt New York heißt. Wenn wir diese Prinzipien verraten, haben die Fanatiker gewonnen.“

So war das. Und so ist es geblieben. Deswegen haben wir, die meisten Europäer, uns seit dem 11. September 2001, dem Tag, an dem wir den USA so nahe waren wie niemals zuvor, in raschem Tempo wieder von ihnen entfernt. Denn der vielleicht unausweichliche Krieg gegen den Irak ist nicht rational. Weder ist die Mitschuld des dortigen Diktators bewiesen, noch ist absehbar, ob dieser Krieg die Lage in der Region nicht dramatisch verschlechtert. Wird der Krieg sich eingrenzen lassen? Trifft es den Richtigen? Das interessiert offenbar nicht. Saddam Hussein ist ein übler Bursche, natürlich. Aber Robert Mugabe, der Nordkoreaner Kim oder die Saudis sind es auch. Und in Afghanistan formiert sich gerade die Al-Qaida neu.

„Die Stärke Amerikas ist zu seiner tatsächlichen Schwachstelle geworden, die von aller Welt wahrgenommene und von vielen mit steigendem Hass empfundene Dominanz hat die Vereinigten Staaten angreifbar gemacht.“ Dieser Satz stand am 12. September im Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“. Es ist im Rückblick erstaunlich, wie sich bereits in den ersten Reaktionen die Bruchlinien abzeichnen, das, was in den folgenden Wochen in Deutschland zu einer wütenden Debatte wurde. Waren in Wirklichkeit die Opfer die Täter? War es nicht obszön, den USA eine Mitschuld an dem Verbrechen zuzuweisen, dessen Ziel sie war? Indem man auf ihre imperiale Politik hinwies?

Einen Tag darauf wurde im Feuilleton der „Süddeutschen“ Franziska Augstein noch deutlicher. „Irgendjemand wird büßen müssen, es ist fast egal wer. Die Rache der Apokalypse richtet sich nicht nach Gerechtigkeit, sie ist die Gerechtigkeit und deshalb unfehlbar… Europa für sein Teil lernt jetzt, was es lange vergessen hatte: Dass es einen Punkt gibt, an dem die in vielen Jahrhunderten erarbeiteten Verfahrensregeln der Zivilisation unter der Macht des Vergeltungsdrangs zusammenbrechen.“ War das antiamerikanisch? Wenn die Ankündigungen der US-Regierung kein leeres Gerede sind, dann kommt es genau so, wie die Autorin es vorhergesagt hat.

Die „Welt“ sagte am 12. September genau das Gleiche, nur anders herum. „Die USA haben mit unerschütterlichem Optimismus zwei Weltkriege für andere geführt; nun ist es an der Zeit, dass andere für Amerika einstehen…Sie werden nicht ruhen, bis ihre Ehre wieder hergestellt und Genugtuung für ihre Toten geleistet worden ist. Das kann durchaus bedeuten, dass ein Sympathisantenstaat, sollten die Terroristen einen gehabt haben, in die Steinzeit zurückgebombt wird… Wenn uns an einem Bündnis mit Amerika gelegen ist, dann werden wir alles daran setzen, den Weg mitzugehen, den Amerika beschreitet.“ Ehre und Treue. Man muss sich dazu Fanfarenmusik vorstellen.

Das war von Anfang an die entscheidende Frage, das ist sie bis heute: In welcher Sprache antwortet man auf den Angriff des religiösen Fanatismus? Verwendet man die Sprache der europäischen Aufklärung, die Sprache der Verhältnismäßigkeit und der Vernunft, oder statuiert man ein Exempel? Bestraft man die Täter, oder bestraft man den Antiamerikanismus als solchen? Ist der Angriff der Terroristen stark genug gewesen, um unseren Glauben an die von uns selbst geschaffenen Regeln zu erschüttern? Irgendwann in den nächsten Monaten wird George W. Bush uns die Antwort mitteilen lassen.

Der 11. September hat unsere Kultur verändert, aber anders, als wir es im ersten Moment dachten. Man fühlt sich heute europäischer als früher. Auch das liberale europäische Denken kennt den verbohrten Fundamentalismus, aber nur in einer einzigen Frage: der Universalität der Menschenrechte. Menschenrechte gelten für jeden, unter allen Umständen, mag er nun ein Terrorist sein oder was auch immer. Wenn man es in einem Satz zusammenfassen soll, dann heißt dieser Satz: Auch Eichmann hatte das Recht auf einen Prozess. Damit ist klar, dass es keine Zustimmung zu einer Politik geben kann, die internationale Gerichtshöfe ablehnt, aber Rachekriege gutheißt.

Für den Europagedanken hat die amerikanische Politik des letzten Jahres mehr bewirkt als die Einführung des Euro. Amerika ist unser Freund, aber es braucht einen Freund, der stark genug ist, um ihm zu widersprechen. Haben wir die Kraft, uns daran zu erinnern, dass dieser alte, verrottete Kontinent nicht nur den Kolonialismus, den Faschismus, den Stalinismus hervorgebracht hat, sondern auch das Licht der Aufklärung, die Idee der Menschenrechte, die unabhängige Justiz, die Ächtung der Todesstrafe?

„Wir dachten: So fängt ein Krieg nicht an, nicht atavistisch wie eine Stammesfehde. Wir dachten: Kriege werden aus Interessen heraus geführt. Sie haben, so verwerflich sie sind, doch einen rationalen Kern. Im Wahnsinn kann ein Krieg höchstens aufhören.“ Geschrieben am 11. September.

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