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Lustig, liebenswert und manchmal launisch: Fassbinder 1977, fünf Jahre vor seinem Tod.

© Istvan Bajzat/dpa

Rainer Werner Fassbinder zu Ehren: Der Traum der frühen Jahre

Am 31. Mai wäre er 75 Jahre alt geworden: Eine Schauspielerin erinnert an Rainer Werner Fassbinder, das wilde Genie des deutschen Kinos und Theaters.

Von Heide Simon

Er war eine Urgewalt, künstlerisch und menschlich. Als Rainer Werner Fassbinder im Juni 1982 mit nur 37 Jahren starb, hinterließ er ein gigantisches Werk – Dutzende Filme und Theaterstücke, die bis heute nachwirken. Er hatte Wurzeln im Volksstück, bei Horváth und Marieluise Fleißer, und seine Visionen reichten bis nach Hollywood. Am 31. Mai wäre er 75 Jahre alt geworden.

Die Schauspielerin Heide Simon erinnert hier an ihn, an die frühen gemeinsame Zeit. Heide Simon begann ihre Theaterlaufbahn am Theater Kiel, war danach in Frankfurt am Main im Theater am Turm und im Schauspiel engagiert, in Bochum, in Berlin in der Freien Volksbühne und im Maxim Gorki Theater sowie in verschiedenen Theatern in Nordrhein-Westfalen.

Sie arbeitete mit den Regisseuren Peter Palitzsch, Thomas Langhoff, Adolf Dresen, Alfred Kirchner, Hans Neuenfels, Volker Hesse. Der Kinofilm „Händler der vier Jahreszeiten“ (1970) war die erste Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder, darauf folgte die Serie „Acht Stunden sind kein Tag“ und der Film „Martha“. Heide Simon wirkte in zahlreichen Filmen und Fernsehproduktionen mit, spielte mehrfach im „Tatort“. Sie lebt mir ihrem Mann Eberhard Wagner in Berlin.

Er wollte einen Menschen erträumen; er wollte ihn bis in die kleinste Einzelheit erträumen und ihn der Wirklichkeit aufzwingen.“ Ein Satz des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges aus „Die kreisförmigen Ruinen“. Er kommt mir bei Rainer Werner Fassbinder in den Sinn.

Nun ist er 38 Jahre tot, der große Filmemacher, und viele haben sich einen Menschen erträumt, der er nicht war und der er gar nicht war,

Man hat Freunde aus seiner Biografie gestrichen und andere, die seinen Weg begleiteten ignoriert und anderen eine hohe Bedeutung gegeben, man hat ihn verdammt und heiliggesprochen, Er war ein großer Filmemacher, er hat viel bewegt und verändert in der deutschen Filmlandschaft, er war ein Genie. Dann habe ich auch geträumt und darüber nachgedacht, wie er wirklich war, damals. Auf der Schauspielschule und später am Theater am Turm.

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War er liebenswert? Ja, er konnte es so sehr sein, dass sein Gegenüber dahin schmolz, wenn er seine großen braunen Augen aufschlug.

War er launisch? O ja, so sehr, dass man ihn nicht ansprechen konnte.

War er hilfsbereit? Ja, er hat mich, als ich auf Vorsprechreise war und verzweifelte, mit nach Paris genommen und mir eine Rolle in „Blut am Hals der Katze“ geschrieben. Ich hatte weiter keine Verpflichtung, als neben ihm zu sitzen und seine Muse zu spielen.

War er lustig? Ja, als wir zu dritt, er, Marite und ich, ohne Geld eine sehr fröhliche Reise nach Wien unternahmen, um das Burgtheater von außen und innen zu sehen, schliefen wir in einer Jugendherberge. Mitten in der Nacht kam er aus dem Jungenschlafsaal und erklärte, er könne bei „denen“ nicht schlafen und legte sich in ein freies Bett. Danach erzählte er jedermann, er hätte unsere Koffer durch ganz Wien schleppen müssen. Wir besaßen gar keine Koffer.

Humor? Wenn es die Situation zuließ

War er ein guter Freund? O ja. Obwohl ich nicht in seiner Gruppe arbeiten wollte, besetzte er mich in drei Filme und als ich ins Engagement nach Kiel ging, holte er mich später ans TAT.

Hatte er Humor? Wenn die Situation es zuließ. Als ich in „Martha“ die kleine Rolle einer Krankenschwester spielte und der Requisiteur sich beklagte, dass ich durch Ungeschicklichkeit schon den dritten Blumenstrauß zerstört hatte, sah er von Simmels „Und Jimmy ging zum Regenbogen“, den er mitten auf dem Krankenhausflur las, hoch und sagte „Ja, ja, so ist sie“.

War er mutig? Ich denke, ein Mensch, der sich anschickt, sein Ding zu machen und entgegen alle Widerstände zu erkämpfen und zu erreichen, der muss mutig sein.

War er boshaft? Er konnte es sehr sein, wenn er zum Beispiel bei einem Essen mit vielen Leute, die alle erwarteten, er würde wieder alles bezahlen, plötzlich kichernd aufsprang und rief: „Die Rechnung begleicht heute … XY“.

War er großzügig? Ja, das habe ich oft erlebt.

Fassbinder 1974 bei einer Premierenfeier im Frankfurter Theater mit Heide Simon und Dramaturg Philipe Nahoun.
Fassbinder 1974 bei einer Premierenfeier im Frankfurter Theater mit Heide Simon und Dramaturg Philipe Nahoun.

© privat

War er ein Familienmensch? Ich war öfters bei ihm zuhause, in der Possartstraße. Immer wurde er grob zu seinem Stiefvater, Wolff Eder, und seiner Mutter war er auch nicht der liebende Sohn. Meistens mussten wir bald wieder weggehen, weil er es nicht aushielt.

War er eifersüchtig? Oh, ja, auf Wolff Eder zum Beispiel, den ich anbetete, weil er so schön erzählen konnte.

War er schwul? Natürlich, er hatte einen Freund Christoph, und Rainer drehte einen kleinen Film mit uns, und weil Christoph und ich uns zu gut verstanden, bekam er einen Wutanfall und warf mich mitten in der Nacht aus dem Hotel.

Mochte er Frauen? Ja, Marite Greiselis, die später ein schreckliches Schicksal erlitt, Hanna Schygulla und mich, die wir mit ihm auf der Schauspielschule waren. Er heiratete Ingrid Caven und später kam noch Irm Hermann dazu.

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War er übermütig? Er soll nach seinen Filmerfolgen ganz München unsicher gemacht und in der Deutschen Eiche wilde Nächte verbracht und mindestens zwei teure Autos an die Wand gefahren haben. Da war ich nicht dabei, aber in der Deutschen Eiche wurde noch lange davon erzählt.

War er fröhlich oder traurig? Ich glaube, er war eher traurig als fröhlich. In den vielen Gesprächen beim Durch-die- Stadt-Streichen zu zweit oder mit Marite zu dritt, erzählten wir uns hauptsächlich wehmütige Geschichten über unsere Kindheit und unser Zuhause. Wir wurden aber sehr fröhlich, wenn es um die Zukunft ging. Rainer konnte sich aufrichtig freuen, er hüpfte dann und ballte die Fäuste in der Luft.

Später, am Theater am Turm, war er sehr verändert. Er war misstrauisch und gelangweilt und seine Gruppe tat alles, um die Situation zu verschlimmern, Nach drei Monaten waren alle verfeindet, dazu kamen Drogen, und sein damaliger Freund Armin sagte, wenn er das Ensemble so erlebte, „umeglich“ (unmöglich). Während einer stürmischen Ensembleversammlung sah er mich plötzlich an und sagte „Du liebst mich nicht mehr.“

Das war der Abschied, aber was niemand ahnte, er war für immer.

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