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2018 beschmierten Unbekannte die Statue des Philosophen Immanuel Kant in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, mit rosa Farbe

© Vitaly Nevar/dpa

Sollte man Kant als Rassisten bezeichnen?: Kritik der weißen Vernunft

Die Kritik an Immanuel Kants anthropologischen Schriften ist alt. Müssen wir den Philosophen der Aufklärung heute vom Sockel stoßen? Ein Debattenbeitrag

War Immanuel Kant ein Rassist, den man vom Sockel stürzen sollte? Seit ein Gespräch mit dem Historiker Michael Zeuske im „Deutschlandradio Kultur“ entsprechend paraphrasiert wurde, wird diese Frage angesichts der antirassistischen Proteste der letzten Wochen diskutiert. Weil der Rassismusvorwurf so überhaupt nicht zum immer noch verbreiteten Bild von Kant als erhabener moralischer Autorität aus Königsberg passt, war ein lauter Aufschrei in der akademischen Welt die Folge. Der Vorwurf aber ist alles andere als neu, sondern Gegenstand einer intensiven Debatte, die insbesondere in den nuller Jahren im internationalen philosophischen und rassismuskritischen Fachdiskurs intensiv geführt wurde. Grundlage dieser Debatte und der aktuellen Vorwürfe ist eine Reihe von Texten über Naturgeschichte und Anthropologie, die Kant in den 1770er und 1780er Jahren veröffentlichte und in denen er eine explizite Rassentheorie formulierte.

Kant vertritt die These, dass alle Menschen von gemeinsamer Abstammung seien, sich aber im Laufe der Zeit aufgrund unterschiedlicher klimatischer Bedingungen auseinanderentwickelt hätten, sodass es nun vier „Racen“ gebe: Weiße, Inder, Schwarze und Amerikaner. Diese „Racen“ zeichneten sich jeweils durch klar unterscheidbare erbliche Eigenschaften aus, die sich im Falle „gemischtrassiger“ Kinder vermengen könnten. Kants Hauptinteresse ist in den Schriften über Rasse weniger politischer als vielmehr naturwissenschaftlicher, anthropologischer und wissenschaftstheoretischer Natur. Ihm geht es darum, welche verschiedenen Differenzen zwischen Menschen existieren, wodurch sie entstehen und wie die Wissenschaft sie erfassen kann.

Im Fokus seiner Betrachtung stehen somit äußerlich-körperliche Eigenschaften der „Racen“, er schreibt ihnen jedoch auch Charakteristika zu, die darüber hinausgehen und alles andere als wertneutral sind: Die vier „Racen“ unterschieden sich in Hinblick auf Fleiß, Vernunftbegabung und die Fähigkeit, Kultur hervorzubringen. Voll ausgeprägt seien diese Kapazitäten nur bei den Weißen, auf die in hierarchischer Folge die Inder und Schwarzen folgten, während die amerikanischen Ureinwohner in der Ordnung ganz unten stünden.

Wer die entsprechenden Texte liest, kann kaum ernsthaft bestreiten, dass diese Positionen nach allen gängigen Kriterien als rassistisch zu bezeichnen sind. Doch einen Autor des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Rassisten zu bezeichnen, heißt immer, ihn nach heutigen Maßstäben zu beurteilen – denn den Begriff des Rassismus gibt es überhaupt erst seit dem 20. Jahrhundert. Ein solches rückwirkendes Urteilen ist aber nicht per se ungerechtfertigt, sondern völlig unumgänglich: Wer die Geschichte des europäischen Rassismus verstehen will, muss ideologische Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhundert analysieren – auch wenn es den Begriff noch nicht gab. Die Vorsokratiker als Vorsokratiker zu bezeichnen wird auch nicht dadurch falsch, dass es den Begriff zu ihrer Zeit noch nicht gab. Zu vermeiden ist lediglich ein bequemes moralisches Verurteilen – weniger, weil man der Vergangenheit damit unrecht täte, als vielmehr, weil man sich selbst damit allzu billig überhöht.

Kant als einen Rassisten zu bezeichnen, wird vor allem dadurch legitim, dass er nicht einfach nur „ein Kind seiner Zeit“ war, das passiv verbreitete Vorurteile nachgeplappert hätte, ohne aus dieser Haut zu können. Im Gegenteil leistete er einen aktiven, eigenständigen und elaborierten Beitrag zur Entwicklung der Rassenideologie, den er zudem selbst als einen relevanten Teil seines Werkes betrachtete. Er vertrat seine Rassentheorien explizit im intellektuellen Streit gegen Autoren wie Johann Gottfried Herder, die diese Theorie zurückwiesen.

Die eigentliche Frage in der philosophischen Kontroverse allerdings ist, wie man nun das Werk eines Autors lesen soll, der einerseits eine universalistische Ethik der Freiheit und Gleichheit, andererseits aber eine hierarchische Rassentheorie formuliert hat. Grob lassen sich zwei Positionen unterscheiden. Auf der einen Seite steht ein kantfreundlicher Mainstream, der möglichst wenig an der bisherigen Kantlektüre ändern möchte. Dann gelten die Rassentheorien als ein etwas peinlicher, aber marginaler Teil von Kants Werk, der vor allem auf sich aus dem historischen Kontext ergebenden empirischen Irrtümern beruhe, die für die Philosophie und ihre Interpretation folgenlos seien. Auf der anderen Seite stehen rassismuskritische Positionen, die beide Teile von Kants Werk als Gesamtheit lesen. Die Moralphilosophie lege dar, wie sich vernunftfähige Subjekte zueinander verhalten sollen, die Rassentheorie erläutere, für wen diese Philosophie gelte: für Weiße, aber nicht für alle anderen. Die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativ lautete dann in Wirklichkeit nicht: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, sondern: „Handle so, dass du die weiße Race sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen Weißen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Mitglieder der anderen Racen kannst du als bloße Objekte behandeln“. Diese Interpretation vertritt der jamaikanische Philosoph Charles W. Mills in seinem Text „Kants Untermenschen“. Für beide Seiten lassen sich gute Gründe anführen: Die einen können darauf verweisen, dass Kant seine Moralphilosophie explizit für die ganze Menschheit formuliert und in seinen anthropologischen Texten betont, dass alle vier „Racen“ zur selben Menschheit gehörten. Die anderen können Textstellen anführen, in denen Kant Sklaverei rechtfertigt und meint, Europa werde eines Tages zur Gesetzgeberin der ganzen Welt.

Sollte man Kant nun, „vom Sockel stoßen“? Das kommt ganz darauf an, was man darunter versteht. Wenn damit gemeint ist, ihn aus dem Kanon zu entfernen, dann sollte man diese Bilderstürmerei unterlassen. Wer so mit der philosophischen Tradition umgeht, wird weder über Philosophie noch über Rassismus viel lernen können. Wenn „vom Sockel stoßen“ aber heißt aufzuhören, Kant als einen über jeden Zweifel erhabenen Heiligen zu verehren, dann sollte man den Bildersturm besser heute als morgen vollziehen – und wenn man dabei ist, könnte man auch darüber nachdenken, ob man überhaupt irgendwen in solcher Weise auf Sockel stellen muss. Nur wenn man den ersten Bildersturm unterlässt und den zweiten vollzieht, kann man das tun, was angemessen ist: Kant in seiner Ambivalenz lesen und seine praktische Philosophie ebenso ernst nehmen wie seinen Rassismus und andere Rechtfertigungen nicht rechtfertigbarer Herrschaftsverhältnisse in seinem Werk. Gerade vom Zusammenhang zwischen beidem ließe sich viel lernen.

Es gibt aber noch eine Möglichkeit, diese Abhandlung optimistisch zu beenden. In Kants „Altersschrift“ „Zum ewigen Frieden“ folgt endlich das, was man in seinen früheren Texten vergeblich sucht: Ein klares Bekenntnis zum gleichberechtigten Subjektstatus aller Menschen unabhängig von „Race“, sowie eine unzweideutige Verurteilung von Kolonialismus und Sklaverei. Wie es die Philosophin Pauline Kleingeld formuliert, hatte Kant wohl „Second Thoughts on Race“, also Zweifel an seiner eigenen Rassentheorie, die er schließlich – zumindest implizit – revidierte. Vielleicht besteht für uns weiße Männer doch noch Hoffnung und wir können, wenn wir uns denn Mühe geben, auch im hohen Alter noch Rassismus verlernen. Darin dürfte man sich Kant dann durchaus zum Vorbild nehmen – aber das kann man nur, wenn man anerkennt, dass es einen Rassismus gab, den er verlernen musste. Auf einen Sockel muss deshalb aber niemand gestellt werden.

Floris Biskamp ist Soziologe, Politikwissenschaftler und derzeit Koordinator des Promotionskollegs rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen

Floris Biskamp

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