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Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker

© Rittershaus

Rattle und die Philharmoniker: Fliegen lernen

Wenn Dirigent und Orchester eins werden, wenn sie sich entschließen, alle in dieselbe Richtung zu streben, dann kann das ganz große Klassikerlebnis entstehen, dann können sie abheben. So eine Sternstunde war jetzt beim Konzert der Berliner Philharmoniker und Simon Rattle zu erleben. Auf dem Programm standen Lutoslawskis Cellokonzert mit dem Solisten Miklos Perényi, Schumanns zweite Sinfonie sowie Henri Dutilleux "Métaboles".

Normal ist das nicht: Zwei Werke aus dem späten 20. Jahrhundert bilden den ersten Teil dieses Abonnementkonzerts – und doch herrscht am Mittwoch Hochstimmung in der Philharmonie. Geistig erfrischt, aufs Intelligenteste angeregt, ja geradezu beglückt strebt man zur Pause ins Foyer und kann sich gar nicht entscheiden, ob nun die Begegnung mit Henri Dutilleux’ „Métaboles“ spannender war oder die mit Witold Lutoslawskis Cellokonzert. Gleich in drei Programmen spannt Simon Rattle die beiden Geistesbrüder in dieser Saison zusammen, den 96-jährigen Franzosen und den 1994 gestorbenen Polen, dessen 100. Geburtstag 2013 gefeiert wird.

An solchen Abenden zeigt sich die Klasse der Berliner Philharmoniker. Während der große alte Cellovirtuose Miklos Perényi zu Beginn des Lutoslawski-Konzerts minutenlang selbstvergessen monologisiert, hört das Orchester aufmerksam zu und ist damit bereits als Masse präsent, die den Solisten bald niederschreien wird. Lutoslawskis Werk ist vor allem als Versuchanordnung interessant, als Parabel über den Einzelnen und das Kollektiv. Mit gespielter Missbilligung blickt Rattle auf Perényi und gibt dann wie ein Polizist den Trompeten das Zeichen zum Angriff. Später, wenn der so unsolistisch agierende Solist, der einfach nur bei sich selber sein will, genug vom Tuttistörfeuer genervt wurde, begleitet der Cellist eine aufsteigende Figur mit trotzigem Kopfschwung. Ein Widerstandsreflex, unendlich vielsagend.

Ganz anders, als pure l’art pour l’art, funktionieren Henri Dutilleux’ „Métaboles“, blendend und brillant instrumentiert wie eine Tondichtung von Richard Strauss. Die Philharmoniker lassen das Werk tausendfach funkeln und schimmern – als würde ein Feld voller Kristalle aus unterschiedlichsten Winkeln angestrahlt. Jeder hört auf jeden, jeder denkt immer das große Ganze mit – das Prinzip Kammermusik, übertragen auf ein Ensemble von 80 Musikern.

Lässt sich so eine doppelte Erleuchtung durch zwei Klassiker der Moderne nach der Pause mit einem romantischen Kernrepertoirestück toppen? Oho! Rattle nämlich setzt Robert Schumanns zweite Sinfonie sofort unter Starkstrom: Knistern und Funkenflug im rasanten Eröffnungssatz, wie ein Perpetuum Mobile beginnt auch das Scherzo abzuschnurren. Gleichzeitig spürt man: Da geht noch mehr.

Und dann werden die Zuhörer im ausverkauften Saal Zeugen jenes Glücksmoments zwischen dem Dirigenten und seiner Truppe von selbstbewussten Individualisten, den Rattle gern mit den Worten beschreibt: „Wenn wir uns einig sind, wenn alle in dieselbe Richtung streben, dann können wir fliegen.“ Zu diesem unendlich dichten, innigen Adagio passt wirklich einmal das hässliche Wort vom Klangkörper. Weil das ganze Orchester hier wie ein Organismus atmet. Eine Sternstunde.Frederik Hanssen

Noch einmal am heutigen Freitag; ein weiteres Programm mit Werken von Dutilleux und Lutoslawski dirigiert Simon Rattle vom 18. bis 20. April.

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