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Kultur: Rauschgift für Kleinbürger

Eine Hommage an den Kritiker H. H. Stuckenschmidt

Von Gregor Dotzauer

Lieber Teddie“, schrieb der eine, „Lieber Hans“ der andere zurück. Brieflich versicherten sie einander der allerherzlichsten Wertschätzung und wussten doch: Es war reine Höflichkeit. Welche Schönfärberei erst, wenn Theodor W. Adorno Hans Heinz Stuckenschmidt (1901–1988) erklärte, dass sie in musikkritischen Angelegenheiten „im Resultat gar nicht so weit“ auseinanderlägen: „Vive la petite différance.“ So sehr sie nach 1933 die Erfahrung des amerikanischen Exils teilten: Zwischen ihnen lagen Gräben.

Anfangs waren sie nur Konkurrenten: 1929 hatte Stuckenschmidt beim Kampf um die Stelle als Musikrezensent der „B.Z. am Mittag“ über Adorno triumphiert. Schon wenig später – Adorno schrieb für den Wiener „Aufbruch“ – waren sie Kontrahenten. Sie zankten um das Heitere in der zeitgenössischen Musik, um Adrian Leverkühn, den Komponisten in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“, und um die Bedeutung der Soziologie für die Betrachtung von Kunst. Das ist nicht nur historisch und des musikschriftstellerischen Niveaus wegen spannend. Es steht noch heute für zwei Möglichkeiten von Kritik.

Der vom Gedanken eines ästhetischen Fortschritts getragene Philosoph Adorno war stets Partei. Der journalistisch bewegliche, von Neugier und Einfühlung lebende Essayist Stuckenschmidt war Pluralist. Neben Schönberg ließ er auch dessen neoklassizistischen Antipoden Strawinsky gelten, neben Alban Berg auch Benjamin Britten.

Die Korrespondenz der beiden bildet neben derjenigen mit Schönberg einen Teil des reiches Materialbandes, den Werner Grünzweig im Gedenken an H.H. Stuckenschmidt herausgegeben hat. Mit Dokumenten aus Stuckenschmidts Dada-Tagen, Tagebuchaufzeichnungen aus den USA und einer umfassenden Schriftenbibliografie erinnert er an einen für das Musikleben maßgeblichen Mann, der heute selbst in Berlin, wo er eine Professur an der TU innehatte, fast vergessen ist.

Das polemische Temperament, mit dem er 1927 beobachtete, wie sich „Der Deutsche im Konzertsaal“ als hirnloser und muskellahmer Kleinbürger vom „Rauschgift“ eines „metaphysischen Getues“ sedieren lässt, mag in der Sache so nicht mehr stimmen. Der böse Ton ist nach wie vor die reine Freude.

Hans Heinz

Stuckenschmidt:

Der Deutsche im

Konzertsaal. Hgg. von Werner Grünzweig und Christiane Niklew. Wolke Verlag, Hofheim 2011.

280 Seiten, 27 €.

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