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Kultur: Reaktion auf den Terror: "Ruanda war schlimmer!"

Einige Deutsche leisten derzeit, ohne es zu wissen oder zu wollen, einen Beitrag zur unvollendet gebliebenen Leitkultur-Debatte. Nur dass sie diesmal nicht das Grundrecht für sich reklamieren, stolze Deutsche sein zu dürfen, sondern das alternative Recht, feige sein und wegsehen zu dürfen, wie es Martin Walser in anderem Zusammenhang gefordert hat.

Einige Deutsche leisten derzeit, ohne es zu wissen oder zu wollen, einen Beitrag zur unvollendet gebliebenen Leitkultur-Debatte. Nur dass sie diesmal nicht das Grundrecht für sich reklamieren, stolze Deutsche sein zu dürfen, sondern das alternative Recht, feige sein und wegsehen zu dürfen, wie es Martin Walser in anderem Zusammenhang gefordert hat. Während der Dichter vom Bodensee alles meinte, was mit dem Komplex "Auschwitz" zu tun hat und schon so verjährt ist, dass es mühelos in der Literatur, in der Kunst und in der Pädagogik behandelt werden kann, bezieht sich der Wunsch der Mitbürger auf Ereignisse, die gestern passiert sind und live im Fernsehen übertragen wurden.

"Ich hoffe", sagt A., "dass die Amerikaner jetzt einen Schock erleiden wie nach Vietnam und sich endlich fragen werden: Was haben wir ihnen angetan, dass sie uns so hassen?" - "Ich lasse mir nicht vorschreiben, wann und mit wem ich trauern soll", sagt B., "außerdem war Ruanda viel schlimmer, und da hat sich niemand bei uns aufgeregt." - "Es ist schrecklich", sagt C., "aber wir dürfen nicht vergessen, was in Hiroshima und Nagasaki passiert ist".

Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Umfrage: Haben Sie Angst vor den Folgen des Attentats? Fotostrecke I: Der Anschlag auf das WTC und das Pentagon Fotostrecke II: Reaktionen auf die Attentate Fotostrecke III: Rettungsarbeiten in New York Fotostrecke IV: Trauerkundgebung am Brandenburger Tor Chronologie: Die Anschlagserie gegen die USA Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 gilt als der Hauptverdächtige Deutsche Originaltöne, aufgenommen im September, zwei, drei Tage, nachdem das Jüdische Museum eröffnet wurde, das als "sozialpolitische Maßnahme" (Direktor Blumenthal) dienen soll, den Deutschen den Umgang mit der Vergangenheit zu erleichtern und einen Weg in die Zukunft zu weisen. Denn: "Zukunft braucht Erinnerung", so steht es auf einem Riesenposter direkt neben dem Brandenburger Tor, mit dem die Berliner aufgefordert werden, für das Holocaust-Mahnmal zu spenden. Bis jetzt scheinen alle sozialpolitischen Maßnahmen versagt zu haben, und der pädagogische Zangengriff, mit dem die Erinnerung konserviert und die Zukunft verbraucherfreundlich gestaltet werden soll, erweist sich als ein Trick, um der Gegenwart auszuweichen.

Auf dem Weg von gestern ("Nie wieder Auschwitz!") nach morgen ("Frieden schaffen ohne Waffen!") müssen viele Kompromisse gemacht werden. Einer sieht so aus: Die Mehrheit der Deutschen ist dafür, die Urheber der Anschläge von New York und Washington zu bestrafen, die selbe Mehrheit ist dagegen, dass sich die Bundeswehr im Rahmen der Nato an einer solchen Vergeltungsaktion beteiligt. Sollen doch die Amis zusehen, wie sie mit ihren Problemen fertig werden.

Man kann es den Deutschen nicht übel nehmen, dass sie feige sind. Feige Deutsche sind ein konstruktiver Beitrag zum Weltfrieden. Andererseits: Eine Gesellschaft, in der seit 40 Jahren Horst Eberhard Richter, Margarete Mitscherlich und Walter Jens bestimmen, was Zivilcourage ist, wo der gewaltlose Widerstand aufhört und die Gewalt anfängt, ist nicht in der Lage, sich, wenn es darauf ankommt, zur Wehr zu setzen. Sie wird nicht einmal mit ein paar Schlägern fertig, die im Suff ausländerfreie Zonen ausrufen, wie soll sie dann mit intelligenten Terroristen fertig werden, die perfekt organisiert, unauffällig vernetzt und bestens ausgebildet sind?

Man tut gut daran, das Entsetzen über den Anschlag und die Welle der Solidarität nicht zu überschätzen. 200 000 Menschen auf der Berliner Kundgebung sind eine eindrucksvolle Zahl. Leider konnte man nicht abfragen, wie viele gekommen waren, um ein energisches Vorgehen gegen die Terroristen zu verlangen oder um ganz allgemein gegen "Krieg" und "Gewalt" zu demonstrieren. Es scheint, als wäre die Angst vor einem Vergeltungsschlag inzwischen größer als die Empörung über den Anschlag.

Während die Rettungstrupps in New York noch nach Überlebenden suchen, werden die Opfer des Terrors von deutschen Demonstranten zur Mäßigung aufgerufen. "Verhandeln statt vergelten", "No revenge, no war, think!", "Gegen militärische Vergeltung!" konnte man auf Transparenten lesen. Bei Straßenumfragen kommen besorgte Bürger zu Wort, die ein "differenziertes Vorgehen" fordern, damit es nicht zu einer "Spirale von Gewalt und Gegengewalt" kommt. Gewalt ohne Gegengewalt ist nur halb so schlimm. Deswegen zirkuliert unter Kulturschaffenden ein Offener Brief an Präsident Bush, auf einen Militärschlag dem Frieden zuliebe zu verzichten.

Die Stimmung kippt, langsam aber unaufhaltsam. Die Deutschen demonstrieren noch immer Mitleid - vor allem mit sich selbst. Wie schon im Golfkrieg, als sie zum Zeichen der vorauseilenden Kapitulation weiße Bettlaken aus den Fenstern hängten, glauben sie, dass sie von einem Vergeltungsschlag am meisten bedroht wären. Im schlimmsten Fall müssten ein paar Bundesligaspiele abgesagt werden, das Oktoberfest könnte ausfallen und die Buchmesse ohne die üblichen Empfänge stattfinden. Deswegen werden sie sich am Ende mit den Tätern arrangieren, indem sie sich mit den Amerikanern entsolidarisieren. Vielleicht werden deutsche Hausfrauen bis nach Afghanistan reisen, um sich als lebende Schilder vor Osama bin Laden zu stellen. Allerdings werden sie versuchen, pünktlich zu Beginn der "Woche der Brüderlichkeit" wieder in Deutschland zu sein, um "Wehret den Anfängen!" zu rufen, wenn irgendwo im Lande ein Hakenkreuz an eine Synagogenmauer geschmiert wird. Derweil fassen sich die Spieler von Bayern München an den Händen und singen "Give Peace a Chance". Die Deutschen sind so sehr wehrhafte Demokraten, wie die Heilsarmee eine Anti-Terror-Truppe ist.

Schon machen obskure Verschwörungstheorien die Runde. Eine Initiative im Internet ruft "Stoppt den Amoklauf der Zivilisatoren" und nennt bin Laden den van der Lubbe der Amerikaner. Der Terror, heißt es da, geht aus der "Mitte der zivilisierten Welt" hervor, diese Zivilisation produziert "täglich weit über 20 000 Hungertote, darunter 18 000 unschuldige Kinder", ohne dass die Medien "dies ebenso wie die Toten der Anschläge des 11. September" thematisieren würden.

In der "taz", wo vor ein paar Jahren der Ausdruck "gaskammervoll" im Zusammenhang mit einer Disco zu heftigen Debatten führte, kann heute ein Psychopath unwidersprochen behaupten, die Anschläge in den USA seien das Werk "verzweifelter Kamikaze-Krieger". Und wenn die es nicht waren, dann hat Präsident Bush die ganze Geschichte eingefädelt, wobei "die Schurken den verabredeten Zeitpunkt eingehalten hatten". Beweis: "Vor neun Uhr sind im WTC keine wichtigen Banker, sondern nur das Fußvolk ist anwesend". Und er nennt den Anschlag "eine inszenierte Katastrophe wie in Pearl Harbour".

Eine Handvoll Terroristen könnte die Bundesrepublik im Handstreich übernehmen. Nicht solche Hobby-Krieger wie die von der RAF, sondern richtige, zu allem entschlossene Schurken mit Pilotenschein. Das Land würde kapitulieren, noch ehe ein Bekennerschreiben vorläge. Und weil das in den USA nicht so ist, können die Amis, trotz aller Schwächen ihrer Gesellschaft, "stolze Amerikaner" sein, während die Deutschen, trotz aller ihrer Tugenden, nur darüber jammern können, dass sie keine stolzen Deutschen sein dürfen. "Wir sind stolz, feige zu sein!" wäre auch eine schöne Parole für die nächste Runde der Leitkulturdebatte, wenn Karl Valentin sie nicht schon vorweg genommen hätte: "Möchten hätten wir schon gewollt, aber Dürfen haben wir uns nicht getraut."

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