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© Triennale

Rede: Natur und Literatur

Es war schwer vorherzusagen, wie J. M. G. Le Clézio seine Nobelpreisrede gestalten würde: politisch, poetisch oder esoterisch? In Stockholm zeigte er dann vor allem eines: Er glaubt als Schriftsteller nicht daran, dass Literatur entscheidend in die Wirklichkeit eingreifen könne.

Als die Schwedische Akademie im Oktober verkündete, der Literaturnobelpreis gehe dieses Jahr an den französischen Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio, zeigte sich die Literaturwelt nicht nur insgesamt völlig überrascht, sondern einmal mehr auch gespalten. Die einen waren ganz einverstanden mit der Begründung des Nobelpreis-Komitees, „einen Schriftsteller des Aufbruchs“ auszuzeichnen, „einen Erforscher der Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der menschlichen Zivilisation“. Andere jedoch sehen in dem 1940 in Nizza geborenen Le Clézio weniger einen schreibenden Zivilisationskritiker und politischen Moralisten, als vielmehr einen Erforscher von verloren- und untergegangenen Paradiesen, als freiheitsliebenden Eskapisten mit esoterischen Anwandlungen und Mensch-Natur-Verschmelzungsphantasien. Sein großes Werk bietet da viele Angriffsflächen. Man kann es aber auch für ein herausragendes, dem Anderen, Fremden unendlich viele Facetten abringendes halten.

Insofern war es schwer vorherzusagen, wie Le Clézio seine Nobelpreisrede gestalten würde: als politische, womöglich globalisierungskritische? Als eine der Faszination des Fremden verplichtete? Als eine, die die Poesie, das Schreiben und die Sprache feiert? Oder auch als eine von Natur- und Esokitsch nicht ganz freie? Die Rede, die Le Clézio Sonntagabend in Stockholm gehalten hat, enthält von alldem ein bisschen. Mit ihr zeigt Le Clézio sich insbesondere als ein Schriftsteller, der nicht glaubt, mit Literatur entscheidend in die Wirklichkeit eingreifen, entscheidend etwas verändern zu können. Der aber von der Kraft und der Notwendigkeit der Literatur nichtsdestrotrotz fest überzeugt ist.

Am Anfang beschreibt er sich sogleich als einen Bewohner des Elfenbeinturms: „Wenn man schreibt, bedeutet das, dass man nicht handelt. Dass man eine gewisse Schwierigkeit angesichts der Realität empfindet und sich daher für eine andere Art der Reaktion entscheidet, für eine andere Form der Kommunikation, für eine gewisse Distanz, für eine Zeit der Überlegung“. Der Schriftsteller sei nurmehr Zeuge, noch mehr Voyeur, nie aber jemand, der die Realität verändern kann: „Wie sollte ein Schriftsteller handeln, wo er sich doch nur darauf versteht, sich zu erinnern?“ Scheint er mit dieser Situation durchaus einverstanden zu sein, so stört sich Le Clézio jedoch daran, dass seine Bücher nur die gewissermaßen happy few erreichen. Das verdeutlicht er mit einem Satz seines 1954 in jungen Jahren verstorbenen schwedischen Kollegen Stig Dagerman: „Er, der eigentlich nur für jene schreiben möchte, die Hunger leiden, muss entdecken, dass nur diejenigen, die genug zu essen haben, die Muße haben, seine Existenz wahrzunehmen“. Als „Wald der Paradoxe“ bezeichnete Dagerman diese Schriftsteller-Situation, und in diesem Wald, so Le Clézio, müsse man sich als Schriftsteller, als Privilegierter zurechtfinden und auf das Instrument der Sprache vertrauen.

Allerdings bietet ihm der Wald dann ganz konkret Anlass, sich einer seiner „stärksten literarischen Gemütsbewegungen“ zu erinnern. Vor langer Zeit erlebte er in einem von Indianern bewohnten Wald in Zentralamerika eine Sängerin namens Elvira. Sie sei für ihn „die Dichtung in Aktion“ gewesen. Ausgerechnet in dieser Abgeschiedenheit, weitab der literarischen Exklusivität, hätte sich die Kunst ach so kraftvoll und authentisch ausgedrückt. Hier erfuhr Le Clézio, und da wird es doch recht schwiemelig, „dass die Literatur existiert“, (...), „trotz der Unfähigkeit der Schriftsteller, die Welt zu verändern“. Von der „Eintracht mit der Natur“ spricht er nun tatsächlich, von „etwas Neuem und zugleich Uraltem“ – um dann aber rührend und ganz auf die Strahlkraft des Literaturnobelpreises setzend seine Rede und seinen Preis der Sängerin aus dem Wald und vielen unbekannten Schriftstellern aus aller Welt zu widmen, etwa der polynesischen Dichterin Dewé Gorodé oder dem mexikanischen Autor Homero Aridjis.

Am Ende schließt Le Clézio mit dem Bild eines lesenden Kindes mitten im Regenwald, das ihn an seine Kindheit erinnert. So wie daran, dass „die Alphabetisierung und der Kampf gegen den Hunger“ einander bedingen: „Beide verlangen heute von uns, dass wir handeln“. Und das wiederum ist ein schön kämpferischer, naturferner Zirkelschluss, gegen den auch die größten Le-Clézio-Skeptiker nichts einzuwenden haben dürften. Gerrit Bartels

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