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Kultur: Refolution!

Timothy Garton Ash und Wole Soyinka im HdK

In diesem deutschen Jubeljahr blickt das Haus der Kulturen der Welt – der Name ist Auftrag – über den nationalen Tellerrand. 20 Jahre nach dem Mauerfall will man 1989 als „Globale Geschichte“ erzählen. Denn je mehr die Deutschen das Jahr für sich reklamieren, desto mehr gerät in Vergessenheit, dass der Rest der Welt nicht in andächtiger Stille verharrte. An allen Ecken und Enden brannten damals Barrikaden oder Freudenfeuer. Während Chile die ersten freien Wahlen nach 15 Jahren abhielt, wurde in China die Demokratiebewegung zerschlagen. Gleichzeitig gab es kleinere Ereignisse mit großen Folgen: In Caracas erschütterten die Massaker in den Armenvierteln den Offizier Hugo Chávez, und in Afghanistan gründete ein gewisser Osama bin-Laden Al Qaida. Dass der 9. 11. also auch für einen Prozess steht, in dessen Verlauf sich die Peripherie immer stärker bemerkbar machte und mit 9/11 schließlich ins Bewusstsein des Zentrums sprengte, ist da mehr als eine Pointe in der Einleitung zu den Thementagen von HKW-Intendant Bernd Scherer (Programm: www.hkw.de).

Ein Coup ist dem Haus zur Eröffnung freilich mit der Einladung von Timothy Garton Ash gelungen. Der englische Historiker erlebte die Wende in Warschau, Budapest und Ostberlin, sein Denken speist sich bis heute aus dieser Erfahrung. Etwa wenn er lässig, in dunklem Anzug und mit rotem Bart postuliert, dass 1989 ein neuer Typ Revolution geboren wurde: Revolution hieß nun nicht mehr Blut, sondern: verhandelter Übergang. Garton Ash findet hierfür den Begriff „Refolution“, Reform und Revolution. Gleichwohl, und jetzt kommt er zum Kern der Veranstaltung, sei 1989 zwar der größte Moment in Berlins Geschichte gewesen, aber auch der letzte, in dem Europa noch einmal Geschichte geschrieben habe: „Wir leben heute in einer nicht-europäischen Welt!“

Als deren Repräsentant steht Wole Soyinka auf der Bühne. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger mit dem schlohweißen Haar hält einen literarischen, die Zuschauer mehrfach zu Applaus hinreißenden Vortrag, dessen zentrale Metapher die Mauer als Unterdrückerin der Wahrheit ist. Die Lügen, die zum Irak-Krieg führten, seien eine solche Mauer, sagt der in Las Vegas lebende Schriftsteller.

Im Gespräch halten beide Denker es dann für eine Ironie der Geschichte, dass der Kapitalismus 20 Jahre nach seinem Triumph in einer Existenzkrise steckt. Ob die Geschichte nun aber im Sinne Francis Fukuyamas als Systemauseinandersetzung neu beginne, bezweifeln sie. Die Frage sei einzig, ob die freie Marktwirtschaft oder der autoritäre Kapitalismus Chinas sich durchsetze. Eher unfreiwillig werfen sie da doch wieder einen sehr europäischen Blick auf die Welt, der dritte Wege ignoriert. Philipp Lichterbeck

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