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Kultur: Regen kommt gut

Viele Apfelsinen, aber auch ein paar Orangen: Ingo Schulzes „Italienische Skizzen“

Tja, denkt man, wenn man dieses Buch zu lesen anfängt: Ingo Schulze war nun also auch in Italien, wie schön für ihn. Und wie schon so viele Autoren und Autorinnen vor und etliche nach ihm, war er Gast in der Villa Massimo in Rom, ein Jahr lang. Wie man dann liest, bedankt er sich dafür am Ende seines Buches mit dem Titel „Orangen und Engel. Italienische Skizzen“ auch artig bei der Bundesrepublik Deutschland. Studienaufenthalt nennt er da selber die verbrachten Monate. Aber was er in Italien studiert hat, bleibt offen, beziehungsweise es dauert seine Zeit, bis man davon eine Ahnung bekommt.

In Rom zu sein ist ja fast immer eine Freude. Für Schriftsteller kann es aber natürlich auch sehr mühsam sein, wenn nicht so gar belastend, erst recht, wenn man dann auch noch Stipendiat der Villa Massimo ist: Irgendetwas Geschriebenes sollte doch dabei herauskommen, das mit Italien zu tun hat, irgendein Text. Schließlich kann man eine solche Zeit nicht einfach als dösender Urlauber verbringen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Denkt man sich so.

So lebendig sich Italien auch an jeder Straßenecke zeigt, man weiß einfach: Dieses Land ist ein riesiger Haufen Kunst und Vergangenheit. Will man also etwas über Italien erzählen, macht man es entweder als Edel-Tourist à la Seume oder Goethe (oder der neuerdings für so etwas immer herhalten müssende Martin Mosebach) etc. pp. und würdigt. Oder man macht es wie Rolf-Dieter Brinkmann, reibt sich daran und verzweifelt. Oder, scheint Ingo Schulze gedacht zu haben, man macht's, als wär man im Lande Irgendwo? Pizza, Parma-Schinken und Pasticceria gibt es schließlich inzwischen überall, und außerdem ist er ja auch mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Töchtern unterwegs: Mit Kleinfamilie reist es sich anders als allein.

Gewiss, wenn es nicht die Monumente sind, die Kirchenkunst und die Geschichte, dann – irgendetwas muss ja sein – , dann sind es die ach so seltsamen Typen, auf die unser Schriftsteller trifft. Hier ein Kameramann im Regen, dort einer im Rollstuhl, auch im Regen (Regen in Italien ist sowieso gut). Hier einer, der den Kindern Candies schenkt, dort ein anderer, der sich ein geiles Leben zusammenfantasiert und davon erzählt. Und dann wieder hier ein reiches Paar, dessen Gast niemand sein möchte – allesamt skurrile Figuren, wie sie einem dann und wann begegnen, die aber, auch liebevoll geschildert, wie es ein Menschenfreund wie Ingo Schulze nun einmal kann, nicht wirklich aufregend sind. Jedenfalls nicht für den Leser.

So geht es die ersten sieben von neun dieser „Italienischen Skizzen“ dahin, alles ganz nett erzählt, was ja in keinem Fall ein Kompliment ist. Die versprochenen Orangen haben da doch die längste Zeit etwas recht Apfelsinenhaftes. Dann aber, in den beiden letzten, sehr gelungenen längeren Erzählungen, verdichtet sich das Aufmerksamkeitspotential des Italien-Reisenden auf einmal in schon nicht mehr erwarteter Form, wobei sich, als seien sie schon zu lange zurückgedrängt, Vergangenheit und Kunst doch noch in die Reise- und Erfahrungsgegenwart einmischen dürfen. Zufall oder nicht: auf einmal wird hier Ingo Schulzes Erzählen perspektivenreicher, um nicht ganz simpel zu sagen: interessanter.

Im berühmten Aquarium von Neapel, wo ihm, nachdem er gerade einer bedrängenden Straßendemonstration entkommen war, unter den Fresken Hans von Marées ein großer Oktopus Avancen macht, oder in Syrakus, wo er an der Hand von Thukydides das grauenvolle Ende der Athener Flotte vor zweieinhalb tausend Jahren imaginiert, da mischt sich das Alte mit dem neuen, quirligen, bürokratischen, mafiosen und auch aggressiven Italien. Und da meldet die Kleinfamilie ebenso ihr Recht an, wahrgenommen werden zu wollen, wie die Latomie Hierons II. oder die nächste große Pizza. Da mischt sich auf einmal alles zu dem unauflösbaren Rätsel, das Italien – wie jedes Land, dieses aber ganz besonders – immer wieder werden muss, um frisch erkannt werden zu können.

In diesem letzten Drittel seines Buches zeigt Ingo Schulze, was seine große Begabung ist: Geschichte und Alltag so zusammenzuführen, dass Kenntnisse und Erfahrung in ihrer unvermeidlichen Gleichzeitigkeit zusammen kommen und jenes so unverzichtbare Amalgam ergeben, das wir Leben nennen, und in dem wir uns in diesem Fall auch dann wiedererkennen würden, wenn wir noch nie in Italien gewesen wären.

Der Verlag hat sich übrigens dazu bewegen lassen, diesen „Italienischen Skizzen“ ein halbes Hundert Farbaufnahmen von Matthias Hoch beizufügen, der kurze Zeit vor Ingo Schulze ebenfalls Stipendiat der Villa Massimo gewesen ist. Das ist eine ebenso großzügige wie leider unergiebige Ergänzung. Die Fotos sehen überwiegend so aus, als wollten sie beweisen, dass Italiens Städte auch nicht viel anders aussehen als Bratislava. Ingo Schulze kommt da dem Italienischen denn doch ein ganzes Stück näher.

Ingo Schulze

Orangen und Engel. Italienische Skizzen. Berlin Verlag, Berlin 2010. 188 Seiten, 22 €.

Jochen Jung

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