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Regisseur Peter Stein: König und Kobold

Der Mann mit den vielen Gesichtern. Zum 70. Geburtstag des Regisseurs Peter Stein.

Er ist ein Teutone, der doch wie so viele deutsche Künstler immerzu den Geist des Südens sucht. Gerade hat Peter Stein, der morgen seinen 70. Geburtstag feiert, im antiken Theater von Epidauros mit griechischen Schauspielern die „Elektra“ des Sophokles inszeniert; und nicht weit von Rom besitzt er seit einigen Jahren mit seiner Frau, der Actrice Maddalena Crippa, ein aufgelassenes Dorf mit Herrenhaus, Kirche und Privattheater, mit Weinberg und Olivenhain, in welchem ihm italienische Schauspieleleven und -innen bisweilen die Früchte lesen, wofür sie dann neben künstlerischen Ratschlägen eine Flasche Öl des Meisters mit nach Hause nehmen dürfen.

In den romanischen Kulturen würde man den Regisseur Peter Stein ein monstre sacre, ein mostro sacro nennen. In diesem Begriff des heiligen Monsters schwingt, bei Stein ganz zu Recht, die divenhafte Erscheinung so gut mit wie auch – die heilige Kuh oder der große Hornochse. Der liebenswert Schwierige und die wunderbare Ekelpackung.

Diese Ambivalenz hat er mit seinem einzig ebenbürtigen Antipoden, mit dem zehn Jahre älteren Peter Zadek gemein. Beide sind geborene Berliner, leben heute meist in Italien und schenken sich nichts. Nichts an Begabung, Schläue, schlagfertigem Witz und manchmal arrogantester Boshaftigkeit. Stein selbst hielt Zadek in ihrer beider Hoch-Zeiten wohl für den genialeren, sich hingegen für den besseren Regisseur. Zadeks Sprengung der Formen erschien Stein mitunter nur als fahrig formlos, während das frühe, strenge Formbewusstsein von P. S. dem aus englischem Exil ins bundesrepublikanische Stadttheater eingebrochenen P. Z. als deutsche Pedanterie vorkam.

Tempi passati? Von wegen! Peter Stein, der Jubilar, hat sich 2007 mit seiner ersten Inszenierung in Berlin seit anderthalb Jahrzehnten – seit seinem Zerwürfnis mit der von ihm zum Weltruhm gebrachten Schaubühne – wieder ins Zentrum geschafft. Er hat als Erster den fast ganzen Schiller’schen „Wallenstein“ inszeniert. Bis Mitternacht dauert die Vorstellung, siebeneinhalb Spielstunden, apropos Monster. Noch gewaltiger war ja im Jahr 2000 sein ungekürzter „Faust“, 22 Theaterstunden. Von Stein als freie, millionenteure Produktion zur hannoverschen Expo gestemmt, wurde das ein riesiger Publikumserfolg. Aber ein Desaster bei der Kritik, ebenso wie bei vielen ihm eigentlich zugewandten Künstlerkollegen. Glich das Durchhalteunternehmen doch einem monströsen Selbstzweck: ein Marathon ohne beflügelnden Geist, ohne andere erkennbare Idee als den erschöpfenden Vollständigkeitswahn.

Das sieht beim „Wallenstein“ jetzt anders aus. Stein, der denkbar größte Kritikerhasser, war nach der Premiere im Mai selbst überrascht (und sehr erleichtert) über den kritischen Zuspruch. Bis zum kommenden Wochenende gibt es nun die letzten drei (ausverkauften) Vorstellungen in der ehemaligen Kindl-Brauerei von Neukölln. Diese Stein-Wallfahrt zum „Wallenstein“ paart zum Finale, trotz der jüngsten Fußverletzung des Titeldarstellers Klaus Maria Brandauer, noch einmal den tiefen Glanz und die partielle Fragwürdigkeit des späten Stein-Theaters. Wobei das Fragwürdige wirklich heißt: aller Fragen wert.

In jeder Biografie gibt es Brüche, und erst die Niederlagen erhöhen den Sieg. In Peter Steins Künstlerkarriere gibt es mindestens zwei Brüche, die so offenkundig sind wie schwer erklärlich. Sie gehören zu seinem persönlichen Magnetismus, der alle Anziehungskraft unvermutet mit einem wahren Abstoßungsfuror kontert.

Man muss sich das noch einmal vorstellen: Da hat einer Germanistik und Kunstgeschichte studiert und in den Münchner Kammerspielen ein bisschen beim Zauberkönig, dem großen alten Fritz Kortner assistiert (dass er ein „Kortner-Schüler“ sei, ist die verbreitete, von ihm selbst gesprächsweise dementierte Legende). Mit seiner impulsiven Theaterintelligenz fällt der unbekannte Assistent vor allem den Schauspielern auf, und mit 30 darf er 1967 auf der kleinen Werkraumbühne der Kammerspiele zum ersten Mal selber inszenieren: das Jugendgang-Stück „Gerettet“ von Edward Bond in bayerischer Mundart, übersetzt vom Jungdichter Martin Sperr. Diese Hinterhausvorstellung eines völligen Nobody wird von der Kritik sofort zur „Aufführung des Jahres“ gewählt und zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Solch ein Debüt, vor 40 Jahren, ist bis heute ohne Beispiel. Danach Brechts „Dickicht der Städte“ im großen Haus, wieder ein Erfolg, dann 1968 der „Vietnam Diskurs“ von Peter Weiss, und als Stein nach der Vorstellung im Münchner Publikum für den Vietcong sammeln lässt und dies zum unverzichtbaren Epilog der Aufführung erklärt, wird er von Intendant August Everding entlassen. Proteste. Debatten. Solidaritätsadressen. Der junge Stein ist eine Berühmtheit und voll im Rollen. Er arbeitet neben Zadek an Kurt Hübners legendärem Bremer Theater und inszeniert dort 1969 Goethes „Torquato Tasso“ mit Bruno Ganz, Edith Clever, Jutta Lampe: der Renaissance-Dichter als tragischer „Emotionalclown“ einer höfischen Gesellschaft, ein zeitkritisches Abbild, Nahbild – und doch gekleidet in die kostbarsten, kunstvoll überspitzten Gebärden einer geisterhaften Vergangenheit.

Ein unvergleichlicher Triumph (noch heute in der sehr guten TV-Aufzeichnung nachzuerleben), das war, mit diesen Schauspielern, der vorweggenommene Gründungsakt der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer. Peter Stein, der als Theaterdirektor ab 1970 auch Regisseure wie Klaus Michael Grüber und kurzzeitig Claus Peymann holte und seine Kreuzberger Bühne schnell zum hellsten Theaterstern jener Jahre machte, Stein kannte auch in Berlin lange nur den Höhenflug. Sein fabelhaft komödiantischer „Peer Gynt“, sein „Prinz von Homburg“ als Widerschein des zersprungenen Lebenstraums des Autors Kleist, die „Sommergäste“ nach Gorki (Textfassung Botho Strauß, auch als Kinofilm), alles Erfolge, bald in ganz Europa bejubelt, und sogar der West-Berliner Senat und Springers Presse, die Steins Kreuzberger Truppe wegen ihrer Mischung aus neomarxistischer Privatuniversität und basisdemokratischer Kommune erst mal piefig beargwöhnt hatten, kapitulierten bald vor dem künstlerischen Weltruhm. Und dann der erste Blitzschlag. Als Stein 1976 als Annäherung an das elisabethanische Theater in Spandauer Filmhallen den Szenenreigen „Shakespeare’s Memory“ vorstellt, verlieren sich die Wildheiten und Widersprüche des Gipfeldramatikers in bunten Tableaux, viele Bilder, sehr gebildet, ein langer Abend, mehr akademisch als dramatisch. Das Götterkind Stein erntet erstmals irdischen Widerspruch und fällt aus allen Wolken. Stein schmeißt Journalisten, die ihm jahrelang den Weg mitbereitet haben, aus der Schaubühnenkantine, erklärt jeglicher Kritik den Krieg und gibt anderthalb Jahrzehnte lang Interviews nur noch im Ausland.

Das Genie spielt gerne den Wahnsinnigen, hat mehrerlei Gesichter, ist Doktor Jekyll und Mister Hyde. Der junge Stein gab den Idealmarxisten, er leitete die frühe Schaubühne als ökonomisch asketischen Orden, seinen eigenen BMW um die Ecke geparkt, mit dem er, wie Kenner noch heute erzählen, auch gerne mit 170 über bevölkerte Autobahnparkplätze raste, ihn hatte der Papa (ein Bad Homburger Fabrikant) bezahlt. In Stein stecken so alle, der Klassenstörer und der Oberlehrer, König und Kobold, Bürger und Bürgerschreck, der charmante Künstler, ein sanft Wissender mit seinem listigen Kirgisenblick oder auch der bezaubernd Überredende (vor allem bei dahinschmelzenden Sponsoren). Doch plötzlich packt ihn wie ein Dämon die rotzigste Kotzbrockigkeit.

Jäh warf er Mitte der 80er Jahre die Leitung der inzwischen an den Lehniner Platz umgezogenen Schaubühne hin. Ab dieser Zeit offenbarte er auch einen mehr als nur formalen Bruch: Stein begann sich von seinen längst Theatergeschichte gewordenen Erfolgen wie „Tasso“, „Peer Gynt“ und „Homburg“ immer griesgrämiger, immer unbegreiflicher zu distanzieren und sich sogar von Laudatoren wie Ivan Nagel nach Preisverleihungen öffentlich abzuwenden. Die mit Köpfen und Freunden wie Botho Strauß und Dieter Sturm ersonnenen Dramaturgien, seine raffiniert die Balance zwischen tradierten Texten und jetziger Lesart ausspannenden, auslotenden Spielweisen erklärt er seitdem als nassforsche Eingriffe in klassisch sakrosankte, angeblich völlig unangreifbare Vorlagen. Was vor seiner Berliner, später in Moskau wiederholten „Orestie“ (Premiere 1980) lag, war für ihn Jugendsünde, er floh zur Oper ins Ausland, war einige Jahre Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, hat aber außer „Faust“ und „Wallenstein“ nichts mehr fürs deutsche Theater inszeniert.

Manchmal tritt er als Vorleser auf. Das wird dann schnell eine zwar unszenische, aber hochdramatische Lesung. Und man spürt, wie dieser Mann noch immer in Dichtungen hineinhorcht und sie auch vor dem geistigen Auge verräumlicht, mit einer gleichsam spirituellen Körperlichkeit füllt. Das ist weit weg von vielen heutigen Verkörperungen, deren Veräußerlichungen – die „Orestie“ mit Beck’s Bier, Marlboro light in Schlüpfern und Jeans – Stein als Leichtsinn oder Dummheit verachtet. Man muss seine Idiosynkrasien gegens Heutige nicht alle teilen.

Man muss auch bei Steins „Wallenstein“ den folkloristischen Schmarrn des ersten „Lager“-Teils nicht gut finden. Aber trotz einiger opernhafter Choreografien erlebt man im Kern, ab den „Piccolomini“, eine heute selten gewordene Konzentration: eine poetische Gedankendichte, die ohne aktualistische Zutaten hervorkehrt, was man im Theater über Krieg, Intrigen, Wankelmut, Loyalität und Verrat je erfahren kann. Peter Stein entdeckt den „Wallenstein“ im alten Gewand auch als Zeitstück. Schon dazu ist ihm zu gratulieren. Jetzt und überhaupt.

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