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"Die große Stille" war Grönings bislang größter Publikumserfolg.

© Reuters/Alessandro Bianchi

Regisseur Philip Gröning bei der Biennale in Venedig: "Die Frauen fliegen aus allen sozialen Kontakten raus"

Philip Gröning ist der einzige deutsche Regisseur im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Dort geht er mit dem Film "Die Frau des Polizisten" an den Start.

Philip Gröning, geboren 1959 in Düsseldorf, ist ein großer Seltenfilmer des deutschen Kinos. Anfang der Achtziger Jahre studierte er an der Münchner Filmhochschule, Aufsehen erregte er 1992 mit der Polit-Satire „Die Terroristen“ über ein geplantes Attentat auf Helmut Kohl. Acht Jahre später folgte sein mehrfach ausgezeichneter „L'amour“ und 2005 sein bislang größter Publikumserfolg: „Die große Stille“ - ein dreistündiger Dokumentarfilm über das Leben im Mutterkloster des Kartäuserordens.

Über Ihren Dokumentarfilm „Die große Stille“ vor acht Jahren haben Sie gesagt, er handele nicht von einem Kloster, sondern sei in gewisser Weise selber eines. Passt der radikale Gedanke auch zu „Die Frau des Polizisten“, Ihrem Spielfilm über das Martyrium einer Dreipersonen-Kleinfamilie?

Nicht ganz. Der Film ist ja nicht selber eine gewalttätige Beziehung zwischen Mann und Frau, auch kein Mutter-Tochter-Verhältnis. Er soll einem aber ermöglichen, in der eigenen Erfahrung in beides zurückzugehen: in Erfahrungssplitter, die mit Zerstörung zu tun haben – und in den Liebestransfer, der eine Seele überhaupt entstehen lässt. Ich will nicht, dass man sich bloß klassisch mit einer Figur identifiziert. Ich will den Zuschauer in den Zustand versetzen, der im Film behandelt wird.

Die Familiensituation ist heftig: Ein Mann schlägt seine Frau, und die vierjährige Tochter wird Zeugin dieser schrittweisen, unumkehrbaren Liebeszerstörung. Auch formal muten Sie Ihrem Publikum einiges zu: 59 Kapitel mit Schwarzfilm zwischen den Szenen – und das über fast drei Kinostunden.

Der Film löst eine merkwürdige Trance aus. Hannes Bruun, mein Cutter, weiß genauso wenig wie ich, in welcher Reihe die Kapitel aufeinander folgen, obwohl wir zwei Jahre daran geschnitten haben. Die Bruchstücke der Erzählung setzt der Zuschauer selber zusammen. Er entscheidet, wie er das innere Bild formt. Es ist wie bei einem Gemälde: Man betrachtet alle Details nacheinander, und dann bleibt ein Bild übrig.

Bei der Premiere soeben im Wettbewerb des Filmfestivals in Venedig gab es viel Anerkennung für Ihre Bildfindungen, andererseits fühlten sich manche durch Ihre strengen Kapiteleinteilungen gegängelt.

Die Szenen sind so intensiv, dass der Zuschauer sich instinktiv abschotten würde, wenn er nicht  zwischendurch diesen Raum hätte, den wir ihm geben. Oft funktioniert das Filmegucken ja wie ein Karabinerhaken: aha, sozialkritisches Drama, kenn' ich, jetzt guck' ich mal, wie der das macht. Ich dagegen trenne die Szenen, damit das Ganze wie ein sich bewegendes Mosaik erscheint. Natürlich ist das eine Zumutung, aber sie ist notwendig.

Auch dass Sie in den Schwarzfilm immer ausdrücklich „Ende“ und „Anfang“ der durchnummerierten Kapitel einblenden?

Wir haben probiert, das wegzulassen, aber es funktioniert nicht. Das Publikum wird zwar rausgerissen durch diese Ansage „Anfang“ -„Ende“ - „Zahl“, kann sich aber dadurch umso tiefer in die nächste Szene fallen lassen.

Das Leben dieser jungen Familie - Uwe, Christine und die Tochter Clara - ist ungeheuer eng, räumlich wie psychologisch. Mit der Umwelt tritt sie kaum in Kontakt.

Es gibt ein Fenster gegenüber, in dem man einmal eine Großmutter mit einem Kind sehen kann, und auch mal vorm Haus einen Flohmarkt. Und Uwe hat einen beruflichen Alltag draußen. Aber die Enge ist eine Folge des Gewaltverhältnisses. Ich habe monatelang Interviews mit Frauen – und auch Männern - gemacht, die in solchen Beziehungen leben. Die Frauen fliegen aus allen sozialen Kontakten raus. 

Dass Sie Uwe als Kleinstadtpolizisten zeichnen: Ist das nicht etwas kurz geschlossen? Hier der gesellschaftliche Gewaltkontext, dort die familiäre Gewalt?

Uwes Beruf stand für mich von Anfang an fest. In einem Tag oder einer Nacht fallen einem ja alle Elemente einer Geschichte ein. Ich habe viel auch bei der Polizei auf dem Land recherchiert. Polizisten sind ja eher in der Position der Ohnmacht. Zum Unfallort kommen sie, wenn es ganz still ist, und da liegen noch zwei Leute, die tot sind. Oder ein Reh. Das bringt Ruhe in den Film. Was Uwe sonst auszeichnet, ist ein unfassbarer Liebesmangel, eine Grundverlassenheit, die er sehr aggressiv weitergibt. Menschen können durchaus in bestimmtem Maß entscheiden, was sie weitergeben von dem, was sie empfangen haben - die Zerstörung oder die Liebe.

"Man ist ganz bei sich, wenn man singt"

Haben Sie zur Vorbereitung andere deutsche Filme über Gewalt in der Ehe angesehen, etwa „Festung“ von Kirsi Marie Liimatainen, wo ein heranwachsendes Mädchen den Elternhorror vor seinem Freund zu verbergen sucht …

… nein, da hatte ich schon gedreht ...

oder „Gegenüber“ von Jan Bonny? Darin schlägt eine Frau ihren Mann, und er ist Polizist.

Ja, den habe ich gesehen. Ich wollte wissen, ob Bonny das Thema schon erledigt hat. Ein guter Film, aber er erzählt einen weniger tief gehenden Konflikt. Er untersucht nicht, warum jemand schlägt, sondern warum sich jemand schlagen lässt.

Uwe wirkt manchmal selber wie ein Opfer. Nur: Wessen Opfer?

So moralisch frage ich gar nicht. Er ist ein Verhungerter der Liebe. Er ist zu schwach, um sich anders zu verhalten.

Verzeihen Sie ihm? Es gibt Szenen, die das zu suggerieren scheinen.

Wenn wir jemanden schlagen oder verletzen oder vernichten wollen, ist das immer auch ein Angriff auf uns selbst. Zivilisation ist, so lautet die Definition, der Verzicht auf Gewalt. In dem Maß, wie Uwe seine Frau Christine zerstört, zerstört er auch sich selber als Mensch. Was ihm bleibt, ist die finale Einsamkeit, und in die führt er sich selbst hinein.

Christine nimmt das Böse auf sich, ohne zu klagen. Das ist das wohl psychologisch Unerträglichste.

Ja, aber der entscheidende Augenblick ist der, wo sie unwiderruflich erkennt, was ihr zugestoßen ist. Nackt schaut sie im Badezimmer ihre blauen Flecke an und entscheidet sich, zu rauchen. Das ist wie das Beuys'sche „Zeige deine Wunde“. Sie hält es aus, das anzusehen und gleichzeitig zu zeigen, auch vor dem Kind.

Sie arbeiten ohne festes Drehbuch. Machen Sie das ähnlich wie Mike Leigh, der eine Zeitlang mit seinen Schauspielern zusammenlebt und dann aus den Improvisationen streng einen gültigen Text generiert?

Nein. Ich fange erst parallel zum Drehen an, Szenen zu schreiben. Viele Details habe ich mit meiner Ko-Autorin Carola Diekmann aus den Recherche-Interviews übernommen und dann an verschiedenen Stellen identisch eingebaut. Ohne Drehbuch wagt man sich auch an viel intimere Momente. Einmal geht Uwe raus in den Hofdurchgang, wo Christine mit Clara ein Beet angelegt hat, und er bekommt einen kleinen Zitteranfall. Oder die frühe Szene mit Claras Körperbildern nach dem Armdrücken der Eltern, sowas würde aus jedem Drehbuch rausfliegen. Das Papier ruft immer nach Dramaturgie. Leute lesen das und sagen, der Gegenspieler ist mir zu schwach, hier muss noch 'ne Komplikation rein, und schon schafft man es nicht mehr, am Drehort zu sagen: Was ich da vor einem Jahr geschrieben habe, gefällt mir nicht. Das schmeiße ich alles weg.

Es gibt auch ein paar – nicht gerade kinoübliche - Szenen, in denen die Familie frontal in die Kamera hineinsingt, sanfte Volkslieder, Kinderlieder. Sind sie insofern dramaturgisch konzipiert, weil sie für einen Moment den Druck aus dem düsteren Geschehen rausnehmen?

So habe ich das gar nicht gesehen. Wenn man singt, zeigt man sich, und sei es nur für Momente. Das Singenlernen gehört zum Liebestransfer, den man von seinen Eltern erfährt. Auch als Erwachsener ist man ganz bei sich, wenn man singt.

Sie haben selber einen erwachsenen Sohn. Welches sind für Sie drei wesentliche Erziehungsprinzipien?

Großzügigkeit. Selbstbewusstsein weitergeben. Und, ganz wichtig, innere Strukturiertheit.

Sie selber mit vier Jahren: Was für eine Szene fällt Ihnen ein?

Mein Kumpel Fred und ich, wir fuhren auf den Rädern wie die Irren um den Block, damals in Düsseldorf. Wir hatten die Theorie entwickelt, dass wir unter den Regentropfen durchfahren können. Wir waren völlig überzeugt, nicht nass zu werden – nur durch unser atemberaubendes Tempo. 

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala. Das Interview erschien zuerst auf Zeit Online.

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