zum Hauptinhalt
Arbeitsalltag Londoner Polizistinnen: „Street Corner“ von Muriel Box hat eine überwiegend weibliche Besetzung.

© Arsenal/BFI

Regisseurinnen im Film Noir: Ausgekocht und hartgesotten

Augenmerk fürs Soziale: Das Kino Arsenal zeigt eine Reihe mit internationalen Pionierinnen des Film Noir.

Ein kleiner Junge, den die Pflegemutter unbeaufsichtigt in der Wohnung zurückgelassen hat, ist aus dem Fenster geklettert und krabbelt in schwindelerregender Höhe den Dachvorsprung entlang. Bis die Feuerwehr anrückt, arbeitet sich die mutige Polizistin zentimeterweise zu dem Kind vor und kann eine Tragödie verhindern. „Street Corner“ (1953) verbindet auf ungewöhnliche Weise soziale Themen wie Kindesvernachlässigung, junge Mutterschaft und prekäre Lebenssituationen mit den Elementen des Film Noir.

Zwielichtige Atmosphären und Suspense werden unter der Regie von Muriel Box souverän in Szene gesetzt. Gleichzeitig ist ihr dritter Spielfilm von einem sozialrealistischen Blick auf die Verhältnisse durchdrungen. Box erzählt halbdokumentarisch, episodenhaft und aus radikal weiblicher Perspektive vom Arbeitsalltag Londoner Polizistinnen. Anders als in vielen Noirs liegt dem Gesetzesbruch der Frauenfiguren hier aber kein elementarer Drive zugrunde, sondern ein gesellschaftliches Motiv – so in den Fällen einer bigamistischen Deserteurin oder einer jungen Mutter und Kaufhausdiebin, die der Attraktivität eines Verbrechers erliegt.

„Street Corner“ ist ein Film mit überwiegend weiblicher Besetzung, wobei die Präsenz von Frauen in den verschiedensten Bereichen des Lebens fast schon einen utopischen Touch hat. In einer Szene erklärt sich ein Polizist gegenüber seiner Kollegin als überzeugter Gegner von Geschlechtergleichheit. Frauen seien für den Beruf ungeeignet, da bekanntermaßen unbeständig, impulsiv, unzuverlässig, antisozial und unpünktlich.

Für diese Dialogzeilen, die die britische Regisseurin und Drehbuchautorin mit dem lässigen Satz „Haben Sie zufällig eine Mutter?“ kontert, musste Box wohl kaum ihre Fantasie anstrengen. Als eine der wenigen Filmemacherinnen in einer männerdominierten Industrie bekam sie von ihren Kollegen oft zu hören, dass für eine Frau das Regieführen nichts sei.

In Hollywood gab es für Frauen kaum realistische Arbeitsmöglichkeiten

Unter dem Titel „Pionierinnen des Film Noir“ erkunden das Kino Arsenal und das Filmkollektiv Frankfurt das bislang nur rudimentär erforschte Filmschaffen von Muriel Box, Edith Carlmar, Bodil Ipsen, Ida Lupino und Wendy Toye – und leisten damit selbst Pionierarbeit. Weder in Hollywood noch im europäischen Nachkriegskino stellte das Regiefach für Frauen eine realistische Arbeitsmöglichkeit dar, entsprechend lief der Aufschwung des weiblichen Filmschaffens in den 1940er und 1950er Jahren über Umwege.

Carlmar, Ipsen, Lupino und Toye kamen über die Schauspielerei zur Regie, Box, die als Script Girl angefangen hatte, konnte auf eine langjährige Erfahrung als Drehbuchautorin (zusammen mit Ehemann Sydney Box) zurückblicken. Interessanterweise scheinen die Fäden im Werk der Filmemacherinnen alle im Hardboiled-Genre zusammenzulaufen. Doch auch wenn sich bei Box, Carlmar, Ipsen, Lupino und Toye viele genretypische Motive finden – fatale Anziehungskraft, das Liebespaar auf der Flucht, Serienmord, Gedächtnisverlust, Hypnose –, lässt sich oft eine realitätsnahe, sozialdramatische Prägung ausmachen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Auffällig ist zudem eine sorgfältige und empathische Ausgestaltung der Frauenfiguren – selbst wenn es sich um eine eifersüchtige Neurotikerin handelt wie in „Døden er et kjærtegn“ (Death is a Caress) von Edith Carlmar, einem düsteren Thriller von 1949 mit Anklängen an „The Postman Always Rings Twice“. Anders als der bekannte Vorläufer mündet in dem ersten norwegischen Film Noir die Konstellation von Femme Fatale und jungem Mann (einem Automechaniker, der gerne liest) nicht in die Beseitigung des Ehemannes, sondern in ein psychologisches Beziehungs- und Klassendrama. In „Ung Flukt“ (Wayward Girl) verlieh die erste Filmemacherin ihres Landes dem idyllischen Setting einer Waldhütte, in der ein miteinander durchgebranntes Liebespaar Zuflucht sucht (Liv Ullmanns Debüt), eine latent bedrohliche Stimmung.

Der erste Film Noir der dänischen Filmgeschichte

Bodil Ipsen, eine der bekanntesten dänischen Schauspielerinnen ihrer Zeit, kann ebenfalls als Wegbereiterin gelten. Im Jahr 1942 drehte sie in Co-Regie mit Lau Lauritzen Jr. den ersten Film Noir der dänischen Filmgeschichte. „Afsporet“ (Derailed) erzählt von der unglücklich verheirateten Arzttochter Esther, die sich infolge eines Gedächtnisverlusts als Geliebte eines Kleingangsters in einem heruntergekommenen Kopenhagen wiederfindet. Diffuse Lichtstimmungen, beklemmende Interieurs und die enigmatische Präsenz der Hauptdarstellerin Illona Wieselmann machen das Drama, das Elemente des Straßenfilms wie des Noirs aufnimmt, zu einem herausragenden Werk.

Auch Ida Lupino, die in ihrer Karriere oftmals gar als Regisseurin, Produzentin, Autorin und Schauspielerin fungieren musste, verband in ihren Filmen kriminalistische und sozialkritische Stoffe. In ihrer zweiten Regiearbeit „Outrage“ (1950) wagte sie sich an ein Thema, das die großen Studios damals nie angefasst hätten. Mit großem Einfühlungsvermögen erzählt der Film die Geschichte eines Vergewaltigungsopfers (das Wort Vergewaltigung auszusprechen, verbat der Hays Code), wobei nicht die Ermittlungen im Vordergrund stehen, sondern die vielfachen Beschädigungen, die das Verbrechen in der Psyche der jungen Frau angerichtet haben.

Dass auf die Zuschreibung einer spezifisch weiblichen Sensibilität nicht unbedingt Verlass ist, zeigt Lupinos folgendes Werk, der Männerfilm „The Hitch-Hiker“ (1953). Die Geschichte um einen psychopathischen Killer entwickelt ihre Kraft durch ein kontrastreiches Lichtkonzept, Schroffheit und Reduktion: Mann, Auto und Knarre tauchen im Film als eine zyklisch wiederkehrende motivische Reihung auf. Doch selbst in diesem waschechten Noir lässt sich ein gesellschaftsdiagnostisches Moment ausmachen, findet sich doch in den Figuren zweier gekidnappter Ehemänner ein Bild angeschlagener Männlichkeit formuliert. Das Lesen subversiver Spuren wird nur einer von vielen Aspekten sein, denen sich in der Reihe nachgehen lässt.

- Die Reihe läuft bis zum 8. August im Kino Arsenal

Esther Buss

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false