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Große und kleine Heimlichkeiten. Das Land wird in "Enteignung" zur Kulisse eines apokalyptischen Szenarios.

© Sebastian Gollnow/dpa

Reinhard Kaiser-Mühleckers neuer Roman: Gutes Leben gibt es nicht mehr

Reinhard Kaiser-Mühlecker gelingt mit „Enteignung“ ein eleganter Roman über den Niedergang auf dem Land.

Auf einem seiner Flüge über das Vorgebirge entdeckt der Ich-Erzähler, von dem wir erst sehr spät und ganz nebenbei erfahren, dass er Jan heißt, einen Schriftzug: Auf einem Hügel sind Buchstaben angebracht, in leuchtendem Rot, aus Holz gefertigt. „Enteignet“, so lautet das Wort, das die Buchstaben ergeben; genauso viele Buchstaben, so denkt der Erzähler sich, wie der berühmte Schriftzug, „den ich in Los Angeles so oft gesehen hatte“. Er kreist zweimal, dann fliegt er weiter.

Schon mit dieser kurzen Szene sind mehrere Spuren in Reinhard Kaiser-Mühleckers Buch gelegt. Es ist der mittlerweile siebte Roman des 1982 geborenen Niederösterreichers, und obwohl er sich in den Handlungsorten und auch in der Atmosphäre nicht gravierend von seinen Vorgängern unterscheidet, macht es doch den Eindruck, als habe Kaiser-Mühlecker mit „Enteignung“ noch einmal neu angesetzt; als sei er vieldeutiger geworden in der Plotführung, gleichzeitig zupackender in der Darstellung seiner Figuren, vor allem auch der Frauenfiguren.

Figuren kleben in einem zähen Gemisch aus Herkunft, Sprache und Zuschreibungen

Jan ist ein Rückkehrer. Er ist im Ort aufgewachsen und hat nun das Haus seiner Tante geerbt. Der Grund für seine Rückkehr ist eine der vielen Fragen, die der Roman offen lässt oder nur in Andeutungen beantwortet. Der Ich-Erzähler ist Journalist von Beruf; er hat für die großen Blätter gearbeitet, Reportagen geschrieben, ist durch die ganze Welt gereist, um nun beim Lokalblatt seines Heimatortes anzuheuern.

Wie so vieles in diesem Roman ist dieses Lokalblatt das Symptom eines allgemeinen Niedergangs, in dessen Strudel sämtliche Lebensbereiche und Berufszweige hineingezogen werden. Alles, wirklich alles ist devastiert oder gerade so eben im Begriff, in einen Zustand des Heruntergekommenseins hineinzurutschen: Der Journalismus, die Politik, ebenso die Liebe, die ohnehin wahlweise eine Illusion oder eine verbissen beschwiegene Zweckgemeinschaft ist. Und die Landwirtschaft, vor allem die, mit der lässt sich gar kein Staat mehr machen.

Seit Thomas Bernhard herrscht das simplifizierende Diktum, dass moderne Heimatliteratur nur noch im Gewand der Anti-Heimatliteratur daherkommen könne oder gar dürfe. Reinhard Kaiser-Mühlecker hat diese beiden antipodischen Begriffe von Beginn seines Schreibens an aufgelöst und in eine neue Kategorie überführt. Seine Figuren kleben in einem zähen Gemisch aus Herkunft, Sprache und Identitätszuschreibungen. Sie lieben ihre Heimat nicht. Sie hassen sie aber auch nicht – sie nehmen sie in unbesprochener Demut hin, als ein Naturereignis, gegen das zu wehren niemandem in den Sinn kommt.

Meister kryptischer Erzählungen. Der österreichische Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker.
Meister kryptischer Erzählungen. Der österreichische Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker.

© Jürgen Bauer

Von einem heißen Sommer bis in den nächsten und noch darüber hinaus reicht der Handlungszeitraum von „Enteignung“. Der Plot ist zwar weniger wichtig als die Stimmung eines sich unter dem Druck von Hitze langsam auflösenden sozialen Gefüges, doch gibt es eine Geschichte mit vielen Erzählfäden, die Reinhard Kaiser-Mühlecker nach und nach entfaltet und deren so raffinierte wie grausame Logik sich erst ganz zum Schluss in ihrer Gesamtheit erschließt.

„Enteignung“ entwickelt sich zu einer Vierecksgeschichte mit einer unbekannten Größe im Hintergrund. Im Supermarkt lernt Jan Ines, eine Lehrerin, kennen. Und weil es so heiß ist und weil ohnehin alles egal ist oder weil er sich langweilt, beginnt er eine Affäre mit ihr oder sie mit ihm. Derjenige wiederum, der die roten Buchstaben auf den Hügel gesetzt hat, heißt Flor und ist ein Mastbauer, der das Pokerspiel um Landverkäufe für einen Windpark so lange ausgereizt hat, bis ihn der Staat am Ende in einem Enteignungsverfahren tatsächlich um den eigenen Grund und Boden bringt.

Seiner Arbeit bei der Zeitung überdrüssig, lässt der Ich-Erzähler sich alsbald bei dem lauernd-aggressiven, schweigsamen Flor als Hilfskraft anstellen. Und urplötzlich ist mit Flors Frau Hemma, die ebenfalls nicht viel spricht, ein weiterer Verwirrfaktor im Spiel.

Große Erzählkunst

Ines und Jan, Flor und Hemma, die Arbeit auf dem Hof von früh bis spät, die kleinen und großen Heimlichkeiten, der Selbstbetrug, die Illusion von einem Leben und Überleben im ländlichen Raum, der nur noch als Kulisse zu funktionieren scheint – all das verdichtet Reinhard Kaiser-Mühlecker in einer Art und Weise zu einem apokalyptisch aufgeladenen Szenario, wie es nur ein großer Autor vermag. Es scheint nichts zu passieren, und doch ist das Buch spannend, spielen sich ungeheure Binnendynamiken ab, angetrieben auch von einem Mann namens Beham, der vermeintlich im Interesse der Gemeinde die Expansionsbemühungen Flors zu hintertreiben versucht.

„Enteignung“ ist ein bestechend gut gebauter, mit einer kargen Eleganz, die nicht mit dem Pathos der Lakonik zu verwechseln ist, ausgestatteter Roman. Noch dazu wohnt ihm eine grausame Komik inne, die immer an persönliche Fehleinschätzungen oder individuelles Versagen geknüpft ist, wie beispielsweise im Fall des ehemaligen Chefredakteurs der Lokalzeitung, der sich nach einem Burn-out zurückzieht, um einen großen Roman zu schreiben und nach einem Jahr mit einer Erzählung von nicht einmal 20 Seiten zurückkommt. Reinhard Kaiser-Mühlecker ist, so hat er es einmal erzählt, ein Autor, der an seinen Manuskripten im Lektorat nichts streichen, sondern eher etwas dazuschreiben muss, um nicht gar zu offen, zu kryptisch zu bleiben. Vieles bleibt auch in „Enteignung“ ungesagt, unaufgeklärt.

„Wie oft“, so schreibt es Jan zu Beginn des Romans, „hatte ich darüber gestaunt, wie tief Menschen empfinden können; das war eine Fähigkeit, die mir abging, was ich aber nie wirklich bedauert hatte: Auch das Bedauern war schließlich eine Fähigkeit.“ Das mag stimmen. Oder auch nicht. Vielleicht weiß das derjenige, der das schreibt, selbst nicht.

Dass Reinhard Kaiser-Mühlecker es seinen Figuren gestattet, sich selbst ein Rätsel bleiben zu dürfen, ist eine seiner großen Qualitäten.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 224 Seiten, 21 €.

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