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Kultur: Reise ans Ende des Lichts

Rückkehr eines Pop-Phantoms: Scott Walkers neues Album „The Drift“

Diese Platte verdunkelt die Sonne. Die Raumtemperatur könnte ein paar Grad gesunken sein. Wenn man diese Musik hört, scheinen alle Töne um sie herum zu ersterben. Jedes Gespräch verstummt vor ihrer Gewalttätigkeit, Ungemütlichkeit und Schroffheit. „The Drift“ heißt das neue Album von Scott Walker. Es erscheint elf Jahre nach „Tilt“ und zweiundzwanzig Jahre nach „Climate of Hunter“, den ersten beiden Teilen einer beispiellosen Trilogie, in der sich eine lebende Poplegende selber dekonstruiert und remystifiziert. Ein gehöriger Teil der Wirkung dieser Platten beruht darauf, dass ihr Schöpfer kein berüchtigter Zwölfton-Avantgardist ist, sondern das ehemalige Mitglied einer Band, die einen historischen Augenblick lang in Beatles-hafte Erfolgssphären aufgestiegen war.

Noel Scott Engel, 1943 in Ohio geboren, war Mitte der Sechzigerjahre ein Drittel der Walker Brothers, die als Vehikel überambitionierter Produzenten in all ihrer Künstlichkeit, ihrem auf Pose und Pathos konzentrierten Habitus ein Gegenentwurf zum „gewachsenen“ Bandmodell darstellten. Mit todessehnsüchtigen Monumentalballaden wie „The Sun Ain’t Gonna Shine Any More“ oder „My Ship Is Coming In“ gelangen den Walker Brothers einige der großartigsten Vier-Minuten-Elegien der Popgeschichte. Unter dem kurzlebigen, vor allem in England hysterische Züge annehmenden Erfolg zerbrach die Gruppe 1967. Ein Comebackversuch in den Siebzigern endete mit der kommerziell desaströsen LP „Nite Flights“, einer Art „White Album“ von der dunklen Seite des Mondes. Zu diesem Zeitpunkt hatte Scott Walker schon eine bewegte Solokarriere hinter sich, die den öffentlichkeitsscheuen Künstler zunächst erfolgreich als stimmgewaltigen Chansonnier, dann mit weniger Fortune als Autor aufwändiger Orchesterballaden und schließlich als resignierten Interpreten mediokrer Standardkompositionen präsentierte. Aus Scott Walker hätte ein recyclingfähiger Alt-Entertainer wie Tom Jones werden können. Stttdessen hat er sich als unlösbares Poprätsel neu erfunden.

„The Drift“ beginnt harmlos. Das Eröffnungsstück „Cossacks Are“ könnte mit seiner düsteren Monotonie auch in einem erweiterten Gothic-Rock-Kontext seinen Platz finden. Von anderem Kaliber ist „Clara“, eine zerrissene, dreizehnminütige Vision, die den gewaltsamen Tod der Mussolini-Geliebten Claretta Petacci beschwört. Das apokalyptische Lautgedicht nimmt sich wie ein akustischer Horrorfilm aus, mit kreischend dissonanten Orchesterpassagen, einer jämmerlich trötenden Schalmei und dem erschütternd hässlichen Geräusch, das Schlagzeuger Alasdair Malloy, vor Anstrengung hörbar keuchend, beim Einprügeln auf eine im Studio aufgehängte Schweinehälfte erzeugt.

Es gibt auf dem Album immer wieder solche Momente einer absoluten Fremdheit, eines So-noch-nie-gehört-Habens. Die fürchterlichen Eselsschreie in „Jolson And Jones“. Das Stampfen eines Gladiatorenmarsches in „Hand Me Ups“, wo sich Walker allen Ernstes in den Gekreuzigten hineinimaginiert. Das zum Killerinsektenschwarm anschwellende Streichercrescendo auf „Cue“. Das bizarre Entengequake am Schluss von „The Escape“, offensichtlich von Walker höchstpersönlich intoniert. „The Drift“ ist bei aller beabsichtigten und mit großem Aufwand – fast 80 Musiker waren an der Produktion des Albums beteiligt – betriebenen Klanginnovation vor allem eine Plattform für den Sänger Scott Walker.

Immer wieder presst Walker seinen einstmals volltönenden Bariton in eine gequälte, wie um Erlösung flehende Tenorlage hinein. Seinen weinerlichen, fast gewinselten Melodiestümpfen haftet etwas traurig Operettenhaftes an. Und doch zeigt sich, für Sekunden von blendender Schönheit, immer wieder das Majestätische und Erhabene dieser einzigartigen Stimme. Gleichberechtigt zum Sänger tritt der Dichter Scott Walker in Erscheinung, dessen surreale Poeme über Elvis’ tot geborenen Zwillingsbruder, das Massaker von Srebrenica oder mittelalterliche Hautkrankheiten die morbide Atmosphäre dieser Musik in wortgewaltige Verse meißeln.

Nach knapp siebzig Minuten endet das Klangbombardement, das einem beim ersten Hören länger vorkommt als die zweieinhalb Stunden Dschungelgemetzel von „Apocalypse Now“, mit einem simplen Liebeslied. „A Lover Loves“ wird nur von einer Akustikgitarre untermalt. Aber Walker wäre nicht er selbst, wenn er nicht auch dieses Stück mit zischenden „Psst“-Lauten ins Dunkel ziehen würde. Keine Versöhnung, nirgends.

Natürlich hat die Nichterfüllung jeglicher Erwartungshaltung an so etwas wie den „schönen Popsong“ ihre eigene hypnotisierende Wirkung. „The Drift“ ist, wenn man die Hörgewohnheiten herkömmlicher Popmusik über Bord wirft – und anders lässt sich diese Platte gar nicht ertragen –, von albtraumartiger Faszination und alienhafter Eleganz. Ob man Scott Walker auf seiner Expedition durch unkartografierte Klangkontinente folgen mag, ist letztlich eine persönliche Entscheidung. Man wird sicherlich weder durch Radio- noch sonst irgendeine Art von öffentlicher Beschallung dazu genötigt. Und bis 2017 hat man genügend Zeit, um sich auf die nächste Sonnenfinsternis der Popmusik vorzubereiten.

Scott Walker: „The Drift“ (4AD/Beggars Group)

Jörg W, er

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