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Kartoffelmann. Solodarsteller Fabian Hinrichs.

© Bresadola/drama-berlin.de

René Polleschs „Kill your Darlings!": Salto capitale

70 Minuten Rausch: René Pollesch zeigt „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“ in der Volksbühne. Das Stück über den Zustand des Kapitalismus wirkt wie ein wahres Antidepressivum.

Das ist doch mal eine Ansage! „Die besten Szenen werden wir heute Abend nicht zeigen, denn die könnten wir alle gar nicht ertragen“, weiht uns Fabian Hinrichs in die Untiefen unseres Exklusivitätsstrebens ein.

Wir schreiben Minute drei des jüngsten René-Pollesch-Wurfs „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“. Und, um es gleich zu sagen: Schon jetzt hat der Abend das Versprechen gebrochen. Polleschs Beitrag zum Brecht-Programm „Fatzer geht über die Alpen“, das die Berliner Volksbühne im Rahmen des „Wanderlust“-Projekts der Bundeskulturstiftung gemeinsam mit dem Teatro Stabile de Torino realisiert, ist sowohl eine kluge Auseinandersetzung mit Kollektiven, Chören und Individualisten als auch eines der lässigsten Antidepressiva der Kultursaison. Die Kombination bedeutet: 70 Minuten Zuschau-Rausch.

Was diesen Abend so herausragend macht, ist die Tatsache, dass man ihn auf unzähligen Ebenen gleichzeitig lesen kann. Zunächst bekommt Polleschs großes Thema – „singulär plural sein“, wie es sein Lieblingstheoretiker Jean-Luc Nancy formuliert – vor der Brecht-Folie im Allgemeinen und dem „Fatzer“-Fragment im Besonderen tatsächlich noch mal einen neuen, präziseren, gleichwohl didaktikfreien Drive.

„Wir haben Chöre gesehen der Arbeiter, wir haben Chöre gesehen des Proletariats“, analysiert der umwerfende Solist Fabian Hinrichs nicht nur Brechts Klassenkampf-, Kollektiv- und Theaterbegriff und steht dabei vor der berühmten, von Bühnenbildner Bert Neumann ironisch nachempfundenen Brecht-Gardine. „Aber“, er zieht sich seine regenbogenfarbene Glitzerhose zurecht, „wir haben noch keinen Chor gesehen, der den Kapitalismus repräsentiert!“ Aufs Stichwort positioniert sich hinter ihm ein 16-köpfiger Trupp Jugendlicher, die man durchaus als flexibel und dynamisch bezeichnen kann. Der Schauspieler stellt sie als „die besten Turnerinnen und Turner Berlins“ vor. Gemeinsam mit Hinrichs hatten sie sich im knalligen Auftaktbild bereits vom Schnürboden abgeseilt, wozu Bruce Springsteens „Streets of Philadelphia“ als angemessen überaffirmativer Pathosverstärker erklang.

Logisch, dass sich der „Chor der Kapitalisten“ auch im weiteren Verlauf des Abends als unschlagbar erweist. Er turnt abgefahrene Salti und formt waghalsige Pyramiden, wobei eine Turnerhand stets die andere und ein Fuß den nächsten greift. Schließlich tritt „der Kapitalismus heute als Netzwerk auf“, grinst der Glitzerhosenindividualist, während er sich vergeblich aus dem Gewimmel ihn auffangender Gliedmaßen zu befreien versucht. So lässig und gleichzeitig komplex vom „Untergang des Egoisten Fatzer“ zum unmöglichen Abgang des Individualisten Hinrichs zu gelangen, muss erst mal einer nachmachen. Mit den lustigen Netzwerksturnübungen – intellektuelle Überschläge, Baggerschaufelperformances und Synchronitätswettstreit mit Michael Jackson – erfährt man an diesem Abend jedenfalls mehr über den Status quo als bei den aktuellen gesellschaftsanalytischen Theaterabenden zusammen.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch Brechts „Lob des Kommunismus“ in einem ratlosen Fragenkatalog entsorgt und ein Remake des Mutter-Courage- Planwagens über die Drehbühne gezerrt wird. Polleschs Abend ist auch als gewitztes Dauerzitat historischer (Theater-)Bilder zu lesen: Die überdeutliche Differenz von Polleschs Turnerchor zu den Chören etwa eines Einar Schleef ist dabei nicht nur trashiges Nebenprodukt, sondern Seismograf für gesellschaftliche Einschreibungen.

Das Allerbeste am neuen Volksbühnen-Pollesch aber ist, dass man sogar gänzlich ohne Brecht, Schleef, Jean-Luc Nancy & Co. im Hinterkopf ein komplexes Vergnügen an ihm finden kann. Dafür ist zum einen Fabian Hinrichs verantwortlich, der wie schon im Vorgängerprojekt „Ich schau dir in die Augen...“ den oft als ausgeschöpft beschriebenen PolleschSound noch einmal neu hinterfragt und ihm dabei überraschend vielgestaltige Töne abgewinnt. Zum anderen machen Pollesch, Hinrichs und die grandiosen jungen Turner die Muskeln der hoch frequentierten Theatermaschinerie sichtbar, die sonst nicht ständig hervortreten. Gerade in ihrem anrührend unschuldigen, körperlichen Spiel unterlaufen sie grandios – und bewusst – ihre eigenen Behauptungen. „Halt, stopp, das ist zu schön, das ertragen wir nicht!“, schreit Hinrichs einmal in ein gebrochenes Glückskitschbild mit Kunstregen hinein.

Doch, doch: Wir haben diese Mega-Strapaze gern auf uns genommen und die Volksbühne so gut gelaunt verlassen wie schon lange kein Theater mehr.

Wieder am 21., 26. & 31.1.

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