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Was macht heute bloß der Himmel? Im Jerusalemer Stadtviertel Mea Shearim, der Hochburg der Ultraorthodoxen. Foto: Baz Ratner / Reuters

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Reportage: Dieses Jahr in Jerusalem

Nach der nicht so ganz internationalen Buchmesse: Impressionen aus einer Stadt, die um ihr Gleichgewicht ringt - und einem Israel, das sich nach der Wahl neu orientiert

Von Gregor Dotzauer

Rund um den zentralen Busbahnhof in der Jerusalemer Neustadt ist nichts Heiliges. Baulärm schwirrt herum, und Binyenei Hauma, das Kongresszentrum gegenüber, wo zum 26. Mal in 50 Jahren die Internationale Buchmesse stattfindet, erstarrt in monumentaler Schäbigkeit. Doch vielleicht muss man nur die Zeichen lesen und die Wunder abwarten können, die sich hier andeuten. Das Problem mit Jerusalem, sagte Israels größter Dichter Jehuda Amichai einmal, besteht schlicht darin: Wenn du irgendwo den Arm ausstreckst, um ein Taxi anzuhalten, glaubt jeder sofort, dass du ein Prophet bist. Wie viel heilsgesättigter geht es erst auf jenem Quadratkilometer Altstadt zu, auf dem sich die monotheistischen Weltreligionen in unzähligen Schichten überlagern oder einander zwischen Klagemauer, Al-Aqsa- Moschee und Grabeskirche vielmehr belagern.

Amichai (1924–2000), ein deutscher Jude aus Würzburg, kannte „das ganze krumme Rohrwerk der Heiligkeit / Mauer und Türme und rostige Heiligenscheine, / all die Prophezeiungen, die nicht an sich halten konnten wie Alte, / all die verschwitzten Flügel von Engeln, / all die stinkenden Kerzen, all der Prothesentourismus, / Erlösungsmist, Glückseligkeit und Hoden“. Die sarkastische Distanz zur Wahrheit der Buchstaben und der Symbole verband sich bei ihm mit einer Liebe zu biblischen und talmudistischen Motiven: Auch in ihnen erkannte er seine Geschichte und die seiner Stadt. In der religiösen Luft, die er atmete, roch er überdies den Pulverdampf der Schlachten, die um Jerusalem getobt hatten. Und als Soldat, der schon 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte, befühlte er in seinen nur vordergründig simplen Texten den Schmerz, der jede militärische Auseinandersetzung auch jenseits der sichtbaren Wunden durchzieht.

Das Literarische Café der Buchmesse, das Amichai einen Gedenkabend widmet, ist proppenvoll. Auf dem Podium sitzen die Witwe Hana und Sohn David, der Freund und Kollege Meir Shalev sowie sein amerikanischer Übersetzer, der Kritiker und Schriftsteller Leon Wieseltier von der „New Republic“. So quicklebendig Amichai in ihren Anekdoten noch einmal wird – seine anhaltende Popularität und die Verwendung seiner Verse als Bar-Mizwa-Schlager zeugen auch davon, dass der Integrationsfigur, die er für viele war, niemand so recht nachgefolgt ist.

Zwei Tage zuvor, am 10. Februar, ist mit 81 Jahren ein Mann von ähnlicher Strahlkraft gestorben. Rabbi David Hartman war der einflussreichste Vertreter einer liberalen Orthodoxie, die einen Sinn für die widersprüchlichsten Facetten des Judentums zu entwickeln versuchte. Von der Entzweiung zwischen säkularen und gläubigen Juden, die sich gerade im Jerusalemer Stadtbild durch die stark gewachsene Präsenz der haredim, wie die aus chassidischen, aschkenasischen und sephardischen Traditionen stammenden Ultraorthodoxen heißen, nicht übersehen lässt, wollte dieser mit allen theologischen Wassern gewaschene Denker und Menschenfänger nichts wissen. Sie war für ihn ein Scheinwiderspruch – auch, weil er ihn mit sich selbst auszutragen hatte. Er, der darauf pochte, dass Judentum nicht mit einem Sprung in den Glauben, sondern einem Sprung in die Identifikation mit einem Volk und seiner Geschichte beginne, haderte zuletzt mit Gott, weil er über die Theodizeefrage nicht hinwegkam.

Als Außenstehender verirrt man sich schnell zwischen sämtlichen politischen und religiösen Fronten. Selbst wenn man eine Innensicht hätte, müsste man aber wohl jenes schöne alte Motto beherzigen, das die unendliche Suche nach gemeinsamen Überzeugungen und Narrativen in die Worte fasst: Zwei Juden, drei Meinungen. Außerhalb von Mea Shearim, der Jerusalemer Hochburg der haredim, deren Buchläden weder Romane noch feindliche Philosophie führen, kann man sie sich auch zur Genüge bilden. Gerade die Buchmesse, die 100 000 Bücher aus über 30 Ländern verspricht, öffnet Fenster in die große weite Welt, die viele, die genau wissen, dass sich dieses Land viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, auch begierig öffnen. Von Angola bis zu einem umlagerten Russlandareal, von Argentinien bis Frankreich reicht der Fokus. Die Deutschen sind traditionell mit einem besonders großen Kollektivstand und der seit langem engagierten Verlagsgruppe Holtzbrinck vertreten.

Nur ein Fenster bleibt unwiderruflich geschlossen: das zur Literatur der arabischen Nachbarn, die gleich hinter den Mauern und Checkpoints, die man von der Altstadt aus sehen kann, zu Hause sind. Der einzige Verlag, der zumindest die die religiöse Lücke füllt und stapelweise englische Ausgaben des Korans verschenkt, kommt aus Neu-Delhi.

Kurze Liste alltäglicher Ereignisse in der Messewoche. Sonntag. Vor dem Fußballmatch gegen Bnei Sakhnin fordern die Fans des Clubs Betar Jerusalem zwei vom tschetschenischen Verein Terek Grosny eingekaufte muslimische Spieler in Sprechchören dazu auf, nach Hause zu gehen. Kommentar eines 16-Jährigen: „Ich bin kein Rassist, ich hasse nur die Araber.“ In der Woche zuvor waren 20 Fans verhaftet worden, nachdem sie Spielerautos mit Steinen beworfen und die Büros am Trainingsplatz in Brand gesteckt hatten. Montag. Die Polizei führt an der Klagemauer zehn Frauen ab, unter ihnen die Reformrabbinerin Susan Silverman, die Schwester des Comedy-Stars Sarah Silverman. Sie sind eingehüllt in tallitot, Gebetsschals, die nach ultraorthodoxen Regeln nur Männer tragen dürfen.

Dienstag. Netanjahus Büro und die Zensurbehörde der Streitkräfte versuchen, die Nachricht vom zwei Jahre zurückliegenden Selbstmord des australisch-israelischen Mossad-Agenten Ben Zygier zu unterdrücken und setzen insbesondere die „Jerusalem Post“ unter Druck. Mittwoch. Armee und Grenzpolizei reißen nach jahrelangen Eingaben von Peace Now neun Fertighäuser von 35 Siedlerfamilien in Gush Etzion in der besetzten Westbank ab, während die Regierung tags zuvor den Bau von 90 neuen Wohneinheiten in der Beit-El-Siedlung genehmigt hat. Die Infrastruktur bezahlt der Staat.

Warum Jerusalem? Gerade die Zuwanderer erzählen es ungefragt, weil sie auch jenseits religiöser Beseeltheit einen Magnetismus spüren, der sich rechtfertigen will, ohne auf Begründungen hinaus zu müssen. Eine, die sich aus der schwedischen Diaspora zur aliyah entschlossen hat, sagt: Wissen Sie, was mich hier hält? Hier muss ich niemandem etwas erklären. Jerusalem gönnt ihr eine Selbstverständlichkeit des Daseins, die sie zuvor nicht empfinden konnte. Ein Amerikaner warnt: Passen Sie bloß auf! Vor 40 Jahren bin ich für drei Tage hierhergekommen. Im Jahr darauf bin ich schon eine Woche geblieben. Und im dritten Jahr konnte ich nicht mehr weg. Ein verschmitzter kleiner Holländer, der als Pensionär ausgewandert ist und in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ehrenamtlich aushilft, wiegt lächelnd seinen Kopf in der frühlingshaften Sonne, spricht vom Antisemitismus in den Niederlanden, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es die Muslime noch viel schwerer hätten. Aus dem Kopf rezitiert er Goethes „Faust“; auf seine alten Tage habe es ihm die deutsche Sprache wieder angetan. Und noch ein anderer, der die isralischen Geschicke seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 vor Ort verfolgt, sagt: Wenn man auf Seite 974 eines dicken russischen Romans ist, hört man nicht einfach auf zu lesen. Barbara Conrads jüngste Übersetzung von „Krieg und Frieden“ hat übrigens 2288 Seiten.

Begegnung mit dem intellektuellen Tausendsassa Bernard Avishai. 1972, mit 23 Jahren, kam er aus Montreal zum ersten Mal nach Jerusalem und hält der Stadt seither in Liebe und Trotz die Treue. Der Politökonom lehrte am Bostoner MIT, war Redakteur der „Harvard Business Review“ und Mitherausgeber von „Dissent“. Er arbeitete für die Unternehmensberatung Monitor Group und die Wirtschaftsprüfer von KPMG, ist Lehrbeauftragter an der Jerusalemer Hebrew University, ausgewiesener Arthur-Koestler-Spezialist und ein enger Freund von Philip Roth, dem er mit „Promiscuous“ zuletzt eine Studie über dessen Romansatire „Portnoys Beschwerden“ widmete. Vor allem aber schlägt sein Herz für ein Israel, das einen Ausweg aus der Besatzungspolitik nach dem Sechstagekrieg 1967 findet. Für ihn liegt er in der Besinnung auf die Gründungsideale.

Misstrauisch beobachtet er, wie sich die Heilige Stadt atmosphärisch mehr und mehr verschließt. Noch vor 20 Jahren, klagt er, waren die geistigen Gravitationszentren die Hebrew University auf dem Berg Scopus und die Knesset. Heute verschieben sich die Gewichte allein durch die demografische Entwicklung: Die kinderreichen haredim gönnen ihren Söhnen nur eine elementare Allgemeinbildung.

In seinem Buch „The Hebrew Republic“ schreibt er: „Die unmittelbare Gefahr, eineinviertel Millionen arabische Bürger vor den Kopf zu stoßen, muss sehr ernst genommen werden. Sie wird durch den eklatanten Bevölkerungsanstieg der ultraorthodoxen Juden verschärft, die von ihren gesetzliche Privilegien ermuntert werden, sich zu fragen, warum Araber überhaupt zu ihrem Staat passen sollten. Die israelischen Eliten können nicht darauf hoffen, wirtschaftliche Verhältnisse wie in Singapur zu haben und einen Nationalitätenkrieg wie in Serbien.“ Avishais Hoffnung auf eine umfassende Demokratie gilt dabei sowohl der Erinnerung an ursprüngliche zionistischen Werte wie einem Versöhnungsprozess, den Israels Hightech-Industrie durch die pure Notwendigkeit zu grenzüberschreitender Kooperation befördert. Wenn er aber ins Träumen kommt, dann ist ihm alles, was man von Irland oder Québec für eine Zweistaatenlösung lernen könne, zu klein, und ihm schweben größere Allianzen vor. In Berlin, sagt er, treibe es ihm die Tränen in die Augen, über dem Reichstag neben der deutschen Flagge auch die europäische wehen zu sehen. Diese Gemeinschaft, schwärmt er, steht wirklich füreinander ein.

In der zersplitterten Politiklandschaft nach der Wahl im Januar, die dem Verlierer Netanjahu durch geschicktes Taktieren nun vielleicht doch zu einer rechtslastigen Koalition verhilft, sind Utopien wie die von Avishai unentbehrlich. Überlebenswichtig auch die Kontinuität des kulturellen Lebens. In einer Seitenstraße der German Colony betreibt die amerikanische Dichterin Linda Zisquist („Ritual Bath“), eine Schülerin von Robert Creeley, die 1978 nach Jerusalem emigrierte und an der staatlichen Bar Ilan University lehrt, Artspace, die einzige Galerie mit zeitgenössischer Kunst (www.artspacegallery.co.il). Ihre Künstler sind mehrheitlich gegenständlicher orientiert als viele Altersgenossen im Israel Museum. Aber besonders das Altmeisterliche von Meir Appelfeld, dem Sohn des Schriftstellers Aharon Appelfeld, hat eine seltene Kraft.

An welchem Punkt befindet sich Jerusalem? In jenem Witz, in dem der Oberrabbiner von Jerusalem den Papst im Vatikan besucht, ist es noch immer der Mittelpunkt der Welt. Auf dem Schreibtisch ein rotes Telefon – der heiße Draht in den Himmel. Der Rabbiner fragt, ob er kurz mit Gott sprechen könne. Der Papst gibt ihm gerne die Gelegenheit, falls er ihm die Gebühren erstatte. Die Viertelstunde schlägt mit 10 000 Dollar zu Buche. Einen Monat später besucht der Papst den Oberrabbiner in Jerusalem. Auf dem Tisch wieder ein rotes Telefon. Diesmal hat der Papst etwas Dringendes zu klären. Nach einer Viertelstunde zückt er das Portemonnaie, doch der Rabbiner wehrt ab: Vergessen Sie’s, es war doch nur ein Ortsgespräch.

Jehuda Amichai hatte auch auf solche charmanten Wahrheitsanmaßungen seine eigene Antwort: „An dem Ort, an dem wir recht haben, / werden niemals Blumen wachsen / im Frühjahr. // Der Ort, an dem wir recht haben, /ist zertrampelt und hart / wie ein Hof. // Zweifel und Liebe aber / lockern die Welt auf / wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. / Und ein Flüstern wird hörbar / an dem Ort, wo das Haus stand, / das zerstört wurde.“

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