zum Hauptinhalt
Erlebte die Revolution, die Terreur und Napoleons Machtergreifung. Rétif de la Bretonne mit 51 Jahren (1785). Porträt von Binet.

© Galiani Verlag

Rétif de la Bretonnes „Die Nächte von Paris“: Erotiker, Schuhfetischist und Zeuge der Französischen Revolution

Mit die „Nächte von Paris“ wird klar, dass der französische Klassiker mehr zu bieten hat als Schlüpfrigkeiten. Rétif de la Bretonne schrieb ein Epochenporträt.

Rétif de la Bretonne ist ein etwas in Vergessenheit geratener französischer Klassiker – eine der schillerndsten Figuren des Siècle des Lumières, ein großer Erotiker und Schuhfetischist. Als Ausnahmeerscheinung erkannt und gierig gelesen hatten ihn schon Goethe und Schiller und andere Zeitgenossen.

Der „Schmuddelcharakter“ einiger seiner Werke war ihnen dabei freilich nicht entgangen, etwa von „Anti-Justine“, einen durchaus pornografisch zu nennenden Gegenentwurf zum verhassten Konkurrenten Marquis de Sade. Im Gegenteil: Dieser Schmuddelcharakter machte den Reiz der Lektüre aus.

Spätestens seit Erscheinen der gefeierten Neuübersetzung von Rétifs autobiografischem und casanovaartigem Werk „Monsieur Nicolas“ durch Reinhard Kaiser vor zwei Jahren ist auch in Deutschland wieder von ihm die Rede. Der notorische Vielschreiber hat aber noch mehr zu bieten als mehr oder weniger amüsante Schlüpfrigkeiten, wie jetzt die ebenfalls von Kaiser stammende Übersetzung seines großen, hierzulande weitgehend unbekannten Flaneur-Werks „Die Nächte von Paris“ zeigt.

Eine der herausragenden Fähigkeiten Rétifs ist seine nachgerade sezierende Beobachtungsgabe, sein soziologisch analytischer Blick. Hinzu kommt der für die Nachwelt glückliche Umstand, dass er Zeuge einer der spannendsten und wegweisenden Epochen der europäischen Geschichte wurde – der Zeit vor und nach der Revolution bis hin zur „Machtergreifung“ durch Napoleon Bonaparte.

Ständig unter Leuten

Zwanzig Jahre lang ist Rétif Abend für Abend ausgegangen, um die französische Hauptstadt, damals die größte Stadt der Welt, in allen dunklen Ecken und schmutzigen Winkeln zu erkunden. „Unter all unseren Literaten bin ich vielleicht der Einzige, der das Volk kennt, denn ich mische mich ständig unter die Leute“, schreibt er, und das wohl nicht ganz zu Unrecht.

Denn er stößt auf Grabräuber, Säufer, Prostituierte, Waschfrauen, Plakatabreißer, Polizeispitzel und zahllose Müßiggänger. Er beobachtet Raubzüge und Vergewaltigungsszenen, Heißluftballons und Nahrungsmittelverschwendungen, und schließlich kommentiert Rétif auch den Sturm auf die Bastille und den anschließenden jakobinischen Terreur.

Seine nächtlichen Streifzüge hielt Rétif akribisch fest, sie erschienen ab 1788 in großen Konvoluten von insgesamt dreitausend Seiten. Der von Reinhard Kaiser auch kenntnisreich bevorwortete Band enthält nun eine repräsentative Auswahl dieser wertvollen und unterhaltsamen Art von Geschichtsschreibung, die nicht weniger ist als ein mitreißendes Epochenporträt.
[Rétif de la Bretonne: Die Nächte von Paris. Aus dem Französischen von Reinhard Kaiser. Galiani Verlag Berlin, Berlin 2019. 528 Seiten, 28 €.]

Tobias Schwartz

Zur Startseite