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Das letzte Abenteuer. Der 3D-Film „Gravity“ – mit George Clooney als Weltraum-Veteran – veränderte die Dimensionen des Kinos.

© 2013 Warner Bros. Entertainment Inc.

Retromania: Je später die Vorstellung: Das Kulturjahr im Rückspiegel

Vom Altern der Kunst und der Kunst des Alterns: Wie die Kultur immer mehr Provenienzforschung in eigener Sache betreibt. Ein leicht nostalgischer Jahresrückblick.

Er trudelt im Raumanzug durchs All, ist cool, relaxed und plaudert fröhlich mit Houston. George Clooney in „Gravity“, ein Kinobild des Jahres. Die Erde ist ein bunter Planet, alles schweigt, alles schwebt, und Clooney hört Countrysongs bei der Arbeit. Als Weltraum-Veteran Matt Kowalski hat er den Nachnamen mit dem polnischen Einwanderer in „Endstation Sehnsucht“ gemeinsam, der die alte Welt der Südstaaten im Bühnenklassiker von Tennessee Williams ins Wanken brachte. Der Astronaut verkörperte einst die Zukunft. Hier dankt er ab und wird bald für immer verschwinden.

Alfonso Cuaróns Science-Fiction-Kammerspiel sprengt die Dimensionen des Filmischen. Dank 3-D wird die Zeit zum Raum, es gibt kein Oben und Unten, keinen Halt mehr fürs Auge in dieser unendlichen Weite. Der Rest ist Schwindelgefühl. Ein Astronaut im Rentenalter? Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war: In der Eingangssequenz von „Gravity“ verkörpert Clooney das Altern der Zukunft. Dann nimmt er sich selbst aus dem Spiel.

Vom Altern war viel die Rede in diesem Jahr. 2050 wird ein Drittel der Deutschen über 60 sein, heute Geborene haben hierzulande gute Chancen, 100 zu werden. Das gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit. Dass die westliche Welt wegen des medizinischen Fortschritts, guten Lebensverhältnissen und geringer Geburtenrate eine immer ältere Bevölkerung verzeichnet, ist keine Horrormeldung mehr. Die Furcht vor einer Gerontokratie hat sich erledigt. Auch 2013 wurden die Alten als Klienten, Kunden und Wähler umworben. In Deutschland wird jeder zweite Euro beim Privatkonsum von über 50-Jährigen ausgegeben, jährlich über 500 Milliarden Euro.

Wer alt ist, blickt gern zurück. Die anhaltende Beliebtheit historischer Jubiläen hat womöglich auch darin ihre Ursache, dass die Gesellschaft als ganze altert; selbst die Babyboomer nähern sich ja allmählich dem Pensionsalter. Auf die begüterte, aktive Ü-60-Klientel werden neben Autos, barrierefreien Wohnkomplexen und Urlaubsreisen nach Kräften auch Kulturveranstaltungen zugeschnitten, Bücher und Filme. „Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, der Bestseller 2012, kommt nächstes Frühjahr ins Kino.

Das Jahr 2013 bescherte den Lesern eine wahre Flut von Publikationen über Alter und Sterben, bis zu Wolfgang Herrndorfs Tagebuch eines angekündigten Todes, „Arbeit und Struktur“. Klaus Maria Brandauer spielte einen Demenzkranken im Fernsehen und trat unter Peter Steins Regie als „King Lear“ im Wiener Burgtheater auf, Johann Kresnik adaptierte mit „Villa Verdi“ an der Berliner Volksbühne Daniel Schmids Musiker-Altersheim-Dokumentarfilm „Il Bacio di Tosca“.

Das Altern der Zukunft bringt es mit sich, dass Altsein für Stars kein Makel mehr ist. Im Sommer rockten die Veteranen Berlin und gaben umjubelte Konzerte: Neil Young und Crazy Horse, Crosby, Stills & Nash, Patti Smith und Leonard Cohen. Bob Dylan beschloss den Reigen im Herbst.

Im Kino wurde die Erfolgsserie der Silver-Ager-Filme fortgesetzt. Auf Dustin Hoffmans Seniorenresidenz-Melodram „Quartett“ (das ebenfalls auf Schmids Dokumentation basiert) folgte Christopher Walken als Cellist mit Parkinson-Diagnose in „Saiten des Lebens“ und die greise Jeanne Moreau als „Eine Dame in Paris“. Morgan Freeman, Robert de Niro, Michael Douglas und Kevin Kline gaben sich in der Hollywoodklamotte „Last Vegas“ die Ehre, zusammen bringen sie es auf 281 Jahre. Pünktlich zum Jahresende lässt Jim Jarmusch in „Only Lovers Left Alive“ Vampire ihre Sehnsucht nach dem Gestern ausleben, während Bully Herbig seine Weihnachtskomödie „Buddy“ über weite Strecken im Pflegeheim ansiedelt. Für das Happy End legen die Greise einen Showact im Flughafenterminal hin. Werbespot für Senioren-Energydrinks.

„Die Zeit steht still, wir sind es, die vergehen“

Das letzte Abenteuer. Der 3D-Film „Gravity“ – mit George Clooney als Weltraum-Veteran – veränderte die Dimensionen des Kinos.
Das letzte Abenteuer. Der 3D-Film „Gravity“ – mit George Clooney als Weltraum-Veteran – veränderte die Dimensionen des Kinos.

© 2013 Warner Bros. Entertainment Inc.

Das Alter ist das neue Jungsein, heißt es dann gern. Man tanzt in Clärchens Ballhaus (das 2013 seinen Hundertsten feierte), protestiert gegen die Schließung des Charlottenburger Traditionshotels Bogota, feiert 50 Jahre Philharmonie und die Wiedereröffnung des guten alten Zoo-Palasts als Premiumkino für die Best Ager.

Auch die Künste blicken zurück. Sie rekapitulieren die eigenen Anfänge, erinnern sich an ihre goldenen Zeiten, räsonieren über den eigenen Alterungsprozess und fragen sich, ob sie womöglich das Nachsehen haben. So geht die Kunst des Alterns mit dem Altern der Kunst einher. Die Re-Wörter haben Konjunktur: Reunions, Revisionen, Retromanie, Retrolook und Reenactments allüberall. Im Kino begann es schon 2008 mit einem als Greis geborenen Baby: Brad Pitt in „Der seltsame Fall des Benjamin Button“. 2012 gewann der Stummfilm „The Artist“ den Oscar, auch Scorseses „Hugo Cabret“ huldigte den Anfängen des Kinos. Selbst „Argo“, der Oscar-Gewinner 2013, rekapituliert einen historischen Moment, die Geiselbefreiung von 1979, als die CIA sich mit Hollywood verbündete, um Menschenleben zu retten. Waren das Zeiten.

In „Spätvorstellung“, der vielleicht schönsten Neuerscheinung über die „Abenteuer des Älterwerdens“, schreibt Jutta Voigt: „Erinnerung ist die emotionale Reserve des Alters, sie hält zusammen, was zu zerfallen droht.“ Verdammt lang her, und es war doch erst gestern – zumal in den rasenden Zeiten des Internets. Den Europäischen Filmpreis gewann im Dezember Paolo Sorrentinos gewitzt melancholischer Rom-Film „La Grande Bellezza“. Die satirisch angespitzte Fellini-Hommage beschwört den Aufbruch der Neorealisten und europäischen Autorenfilmer gerade so, als sei’s nicht vorbei und doch eine Ewigkeit her.

„Die Zeit steht still, wir sind es, die vergehen“, zitiert Jutta Voigt in ihrem Buch die Dichterin Mascha Kaléko. Das passt sogar zum Kunstskandal des Jahres, dem Schwabinger Gurlitt-Fund. Alle Welt redet jetzt über Raubkunst und Provenienzforschung, weil ein skurriler alter Herr mit seinen aus der Nazizeit geerbten Kunstschätzen über Jahrzehnte unbemerkt in einer Schwabinger Wohnung lebte. Diese Vergangenheit ist kein bisschen vergangen.

Die Kampfkunst von damals ist verblichen, verschollen, verschwunden

Lust am Untergang. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig ließ der chilenische Künstler Alfredo Jaar die Ausstellung in der Lagunenstadt
Lust am Untergang. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig ließ der chilenische Künstler Alfredo Jaar die Ausstellung in der Lagunenstadt

© picture alliance / dpa

Wie war das damals? Jutta Voigt reist in „Spätvorstellung“ nach Venedig, in die sinkende, von jeher morbide Stadt. Dort betrieb die Kunst auf der diesjährigen Biennale Archäologie in eigener Sache wie nie zuvor und reinszenierte ihre eigene Historie. Im Arsenale wie im zentralen Pavillon in den Giardini, dem „Palazzo Enciclopedico“, wurden die verkannten Außenseiter des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Im chilenischen Pavillon ließ Alfredo Jaar ein Modell des Biennale-Geländes alle paar Minuten im Wasserbassin versinken. Der Kunstbetrieb sieht sich selber beim Untergang zu. Im rumänischen Pavillon gab’s die Geschichte der Biennale als Pantomime: Schauspieler stellten Kunstwerke nach. Die Österreicher wiederum präsentierten den Zeichentrickfilm „Imitation of Life“ im Stil, mit der Technik und dem Sound der 30er Jahre, und bei den Belgiern bandagierten Berlinde de Bruyckere und der Schriftsteller J. M. Coetzee einen verletzten, verkrüppelten Baum. Lauter Publikumslieblinge in Venedig 2013.

Am Rande der Kunstschau wurde in einem venezianischen Stadtpalast Harald Szeemanns legendäre Ausstellung in der Kunsthalle Bern von 1969 rekonstruiert, „When attitudes become form“. Ein Haus im Haus, der Palazzo des 18. Jahrhunderts als anachronistische Hülle für Räumlichkeiten des 20. Jahrhunderts mit Heizkörpern und Linoleumboden. Und für jene Werke von Beuys, Artschwager, Oldenburg, Nauman oder Mario Merz, die damals Proteste provozierten. Wegen der Vergänglichkeit ihrer Materialien, Wachs und Fett, Pappe und Dreck, wegen der Kampfansage an den Ewigkeitsanspruch der Kunst. Heute ist die Kampfkunst von damals selber verblichen, verschollen, verschwunden, die Zeit hat sie gefleddert. Manchmal bleiben nur Spuren, gestrichelte Markierungen an Wand und Boden. Die Revolution frisst ihre Werke, und sie sind trotzdem noch da, erzählte die Schau. Solange wir uns an sie erinnern.

„Die andere Heimat“, der schönste deutsche Film 2013, blickt ebenfalls weit zurück, in die Frühzeit jenes Hunsrückdorfs Schabbach, dem Edgar Reitz seine mittlerweile 60-stündige Chronik gewidmet hat. Der Atem der Geschichte zerzaust die Ernte, der Regisseur sitzt als Bauer am Feldrand und dengelt die Sense. Werner Herzog taucht auf, in Gestalt von Alexander von Humboldt, und fragt nach dem Weg. Herzog und Reitz, zwei Protagonisten des Aufbruchs im Film: Ich bin noch da, wir sind noch da. Auch ein Kinobild des Jahres.

Edgar Reitz, der Sohn eines Uhrmachers, kennt das helle, sirrende Geräusch des Dengelns aus seiner Hunsrücker Kindheit. Ein gleichmäßiger Klang, ein Herzschlag-Geräusch. Die Zeit steht still, das Erzählen geht weiter. Die Kunst hat das Nachsehen? Wenn sie aus dem Nachsehen eine Kunst macht, wird sie so schnell nicht alt.

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