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Am Ende der Ausstellung „Guernica in Sand“ wird das große Sandbild von Picassos „Guernica“ verwischt. 

© Taipei Fine Arts Museum

Retrospektive Lee Mingwei: Der Künstler der Stunde

Gemeinsames Essen und andere Rituale: Der taiwanesische Künstler Lee Mingwei eröffnet neue Möglichkeiten, mit der Krise umzugehen. Der Gropius Bau zeigt seine erste europäische Retrospektive. 

Da oben auf dem flachen Podest hätten wir Ende März gesessen und am ersten Schließtag der Ausstellung ganz allein im Gropius Bau gemeinsam gegessen. Aus Lee Mingweis „Dining Project“ ist vor Ort nichts mehr geworden. 

Der Tisch bleibt unbenutzt. Der taiwanesische Künstler kehrte schon vor dem wegen Corona verschobenen Eröffnungstermin seiner Ausstellung nach Hause zurück, um bei seinem Partner zu sein.

Wir haben uns trotzdem getroffen, digital, am Bildschirm: nicht zum Mittagessen, sondern zur Tea Time. Vor uns – bei ihm in New York und mir in Berlin – stand jeweils ein Stück frisch gebackener Birnen-Schokoladen-Kuchen nach einem Rezept von Jean Gooch, Mingweis Schwiegermutter. 

Die Teatime widmeten wir Jean und meinem Vater, die beide kurz zuvor gestorben waren. Auch für sie standen Tassen und Teller bereit. Die Situation war ebenso anrührend wie befremdlich, ebenso intim wie distanziert. Eben eines jener verrückten, traurig-schönen Corona-Erlebnisse.

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Wer Lee Mingweis Kunst begegnet, wird auf eine Reise zum eigenen Ich oder den persönlichen Erinnerungen eines anderen mitgenommen. Durch die Kühle der Inszenierung wohnt seinen Werken zwar etwas Voyeuristisches inne, dennoch gehen sie zu Herzen. Ungeplant ist Mingwei zum Künstler der Stunde geworden. 

Der 56-Jährige stellt Verbindungen her, spendet Trost, verspricht Heilung, wonach seit Ausbruch der Pandemie mehr denn je Bedarf besteht. 

„Li, Geschenke und Rituale“, so der Titel seiner Ausstellung im Gropius Bau, präsentiert 15 Projekte der letzten 30 Jahre. Unter der minimalistischen Oberfläche der nüchternen Arrangements schlagen die Gefühle hoch.

Für diese eigentümliche Spannung sind jene drei hölzernen Kabinen im ersten Saal bezeichnend. Wer sie betritt, muss vorher die Schuhe ausziehen. In ihnen liegt Briefpapier aus, auf dem der Besucher einer verstorbenen oder abwesenden Person auch sich selbst einen Brief schreiben kann – eine Entschuldigung, einen Dank, was auch immer. 

Ungewöhnliche Angebote für eine öffentliche Institution

Bei unserer digitalen Teatime erzählt Mingwei, dass er einen solchen Brief gerade an die Adresse seines Zweitwohnsitzes in Paris geschickt habe und sich jetzt schon darauf freue, ihn öffnen zu können. Denn das bedeutet, dass die durch Corona diktierten Reiserestriktionen aufgehoben sind und er wieder nach Frankreich darf.

Mit seinen Einladungen zum gemeinsamen Essen, zum Briefeschreiben, zum Schlafen im Museum und Gutenachtgeschichten-Hören, zum Abliefern beschädigter Kleidungsstücke, die in der Ausstellung geflickt werden, macht Mingwei für eine öffentliche Institution höchst ungewöhnliche Angebote. 

Doch der Gropius Bau befindet sich seit dem Direktorenwechsel ohnehin im Wandel. Die neue Chefin Stefanie Rosenthal will eine Kultur der Gastfreundschaft gegenüber den Besuchern einführen, Mingwei soll dabei helfen. 

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Das funktioniert bereits bei Äußerlichkeiten: einem exzellenten Café oder aufmerksamen Aufsehern, die anbieten, eine Schutzmaske vom Empfang zu holen, wenn das Halstuch immer wieder von der Nase rutscht.

Der strukturelle Wandel dürfte schwieriger sein. Im Gropius Bau wird grundsätzlich über die veränderten Aufgaben eines Kunsthauses nachgedacht, deren Notwendigkeit seit Corona noch deutlicher geworden ist. Das Wort von der heilenden Kunst mag verpönt sein, doch Lee Mingwei stellt eine Brücke zwischen beidem her: dem ästhetischen Anspruch und der empathischen Geste.

Zu den Höhepunkten der Biennale di Venezia 2017 gehörte im Arsenale sein „Mending Project“, das nun in Berlin zu sehen ist. Die Fäden Hunderter Spulen an einer Wand führen zu einem meterlangen Tisch, auf dem gestopfte Kleidungsstücke liegen: Schals, Strümpfe, Blusen, deren Löcher nun ein Mix bunter Linien markiert. 

Besucher bringen kaputte Textilien

Das Prinzip stammt aus Japan, wo die Reparatur kostbarer Keramiken durch Goldfugen sichtbar gemacht wird, die dadurch an Wert gewinnen.

Narben wohnt Schönheit inne, lautet Mingweis Botschaft an die Besucher, die ihre versehrten Textilien bringen und sich mit der am Tisch sitzenden Näherin über die Geschichte der Kleidungsstücke zu unterhalten beginnen. 

Das gilt auch für den Ort. Bei der Renovierung des Gropius Baus wurden Spuren der Zerstörung durch den Krieg bewusst belassen. Wer sich umschaut, entdeckt offenes Mauerwerk, fehlende Stücke im Stuck. Das Haus stellt seine Geschichtlichkeit aus.

Teatime mit Lee Mingwei. Der Künstler Lee Mingwei in New York auf dem Bildschirm, die Autorin Nicola Kuhn vorne im Bild.
Teatime mit Lee Mingwei. Der Künstler Lee Mingwei in New York auf dem Bildschirm, die Autorin Nicola Kuhn vorne im Bild.

© Josefine Rüter

Mit seiner Kunst zelebriert Mingwei die Erfahrung einer Passage. Er selbst durchlebte sie zuvor. Das „Mending Project“ geht zurück auf seine Reaktion auf 9/11, als er voller Sorge im gemeinsamen Apartment auf seinen Partner wartete, der damals im World Trade Center arbeitete. 

Um sich abzulenken, begann er sämtliche Näharbeiten zu erledigen, bis sein Partner nach Hause kam. An dem Tag hatte er außerhalb seines Büros zu tun.

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Corona beschert durch die sozialen Medien eine vergleichbar weltumspannende Erfahrung. Mingweis Kunst könnte bei der Verarbeitung helfen. Sie zeigt einen möglichen Umgang mit schockhaften Erlebnissen auf. So geht „The Letter Writing Project“ auf den Tod seiner Großmutter zurück, der er in den darauffolgenden 18 Monaten Briefe schrieb, darunter Zeichnungen und zufällige Gedanken. 

Der Künstler hatte seine Trauer in einen Ritus umgelenkt und damit eine Form des Abschieds gefunden. Das „Li“ in seinem Ausstellungstitel „Li, Geschenke und Rituale“ bezeichnet ein konfuzianisches Prinzip, wie Mensch und Gesellschaft durch ihr Verhalten intakt bleiben können. Darunter fallen auch gegenseitige Gaben.

Die Ausstellung im Gropius Bau ist ein solches Geschenk. Der Künstler holt den Besucher mit alltäglichen Praktiken ab, Essen, Schlafen, Schreiben, Nähen. Er lehrt im Unglück die kleinen Dinge entdecken, wie jene Kollektion Weihnachtsbaumanhänger, die nun in einer Vitrine ausgestellt sind. 

Für sein Projekt „The Living Room“ hatte Mingwei im Vorfeld Menschen mit einzigartigen Sammlungen gesucht. Elf fanden sich, elf Mal wechselt der Vitrineninhalt in der elfwöchigen Laufzeit der Ausstellung. Den Wert banaler häuslicher Objekte hat spätestens Corona gelehrt.
[Gropius Bau, Niederkirchnerstr. 7, bis 7. 6.; Mi bis Mo 10 – 19 Uhr. Katalog 19 €.]

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