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Von Sinnen. "Das Fest des Bohnenkönigs", ein Gemälde von Jacob Jordaens, entstanden von 1640 - 1645.

© Mauritius Images

Rettet den Rausch!: Wir sollten es mit dem Verzicht nicht übertreiben

Jesus und Dionysos, die Götter und die Menschen: Die Kulturgeschichte ist ohne Trunkenheit nicht denkbar. Doch der Alkohol ist längst in Verruf geraten.

Religions- und Gemeinschaftserfahrungen im Rausch gehören zum menschlichen Urprogramm. Wenn Jesus seine Jünger beim letzten Abendmahl zum Weintrinken lädt, greift er auf einen kulturellen Code zurück, der lange vor seiner Zeit geprägt worden war. Der gemeinsame Konsum von Alkohol verbindet mit Gott und stärkt die Zusammengehörigkeit. Um beides ging es Jesus – um einen neuen Bund zwischen Himmel und Erde und um eine gestärkte Gruppe, die beim Wein als Gemeinde zusammenfindet. Im Rausch offenbart sich die Fülle des Lebens, die jenen versprochen wurde, die an Gott glauben.

Doch Ermahnungen zur Nüchternheit blieben nicht aus. Die klassische Philosophie bestimmte die intellektuelle Anstrengung als alleinigen Weg zur Erkenntnis, Priester predigten Mäßigung, asketische Eremiten wurden zu Heiligen. Um den Menschen wieder mit seiner Rauschnatur zu versöhnen, entdeckten Hölderlin und Nietzsche Parallelen zwischen Jesus und Dionysos, dem Weingott der Griechen. Der Erlöser und der Lösende – zwei Wiederauferstandene im Zeichen des fermentierten Traubensaftes, Antike und Christentum, Götter und Gott eng umschlungen von den Trieben der Rebe. Nüchtern wären Tiefe und Tragik des Daseins einfach nicht zu erfassen.

Heute befindet der Alkohol sich in einer seltsamen Zwischenlage – nicht mehr Lebensmittel und noch nicht Rauschmittel, schlichter gesagt: Droge. Auch in diesem Jahr haben während der Fastenzeit mehr als eine Million Deutsche bewusst Verzicht geübt. Den unbestrittenen ersten Platz in der Liste der Dinge, von denen man sich 40 Tage lang zu entwöhnen trachtet, belegen alkoholische Getränke. Sie zählen zu den Genussmitteln, werden also nicht wegen ihres stattlichen Nährwerts konsumiert, sondern wegen ihres Geschmacks und ihrer letztlich berauschenden Wirkung. Um ja nicht zu deutlich in diese Richtung zu torkeln, schiebt die Alkohol-Lobby konsequent das Genusserlebnis in den Vordergrund. Trinken wird so beinahe zur Achtsamkeitsübung stilisiert.

Doch der Druck wächst. Unlängst hat die „Global Burden of Disease“-Studie nachgewiesen, dass es keinen Konsum ohne Risiko gibt. Das Echo gleicht einem Erdbeben. Von den ehemals ärztlich gepriesenen Vorteilen des moderaten Trinkens für Herzkranzgefäße und Psyche bleibt nach neuer Lesart nichts mehr übrig. Eine Ernüchterung – und es kann noch schlimmer kommen. Wo es keine definierbaren Unbedenklichkeitswerte mehr gibt, drohen Verbote.

Lange war Bier ein Grundnahrungsmittel, wie die Kartoffel

Suchtforscher fordern weniger Werbung, höhere Preise und Kauf von Bier, Wein und Sekt nicht ab 16, sondern erst ab 18. Sie betrachten als Risikotrinker, wer als Mann mehr als durchschnittlich einen halben Liter Bier pro Tag trinkt, für Frauen gilt die Hälfte. Das trifft in Deutschland auf mehr als 7,8 Millionen Menschen zu. So wie der Tabakrauch aus der Mitte unserer Gesellschaft vertrieben wurde, könnte auch Alkohol zur Randerscheinung werden.

Zum Wohl. In Deutschland ist der Kauf von Alkohol ab 16 Jahren erlaubt. Jedenfalls von Wein, Sekt und Bier.
Zum Wohl. In Deutschland ist der Kauf von Alkohol ab 16 Jahren erlaubt. Jedenfalls von Wein, Sekt und Bier.

© dpa/Peter Byrne

Was für ein Abstieg! Ob es uns schmeckt oder nicht – ohne den kollektiven Rausch wäre die Menschheit nicht, was sie heute ist. In Südostanatolien liegt am höchsten Punkt einer langgestreckten Bergkette die Kultstätte Göbekli Tepe, übersetzt „Bauchiger Hügel“. Was deutsche Archäologen hier ausgraben, wirft ein völlig neues Licht auf die Geschichte der frühen Menschen.

Jäger und Sammler haben mit größter Kraftanstrengung eine Tempelanlage errichtet, deren Aufbau und Erhalt die Möglichkeiten von Nomaden überstieg. In Steinwannen fand man Reste von Bierstein, überall lagen Tierknochen herum. Die religiösen Zusammenkünfte mehr als zehntausend Jahre vor Christi Geburt haben also nicht nüchtern stattgefunden, es waren Gelage. Um die Gemeinschaft beisammen zu halten und den Tempel weiter ausbauen zu können, reichten die gesammelten Wildgetreide nicht mehr aus. So wurde die Menschheit um einen Tempel des Rausches herum sesshaft. Lange bevor sie wusste, wie Brot gebacken wird, bestellte sie ihre Äcker, um Bier zu brauen, durch dessen Genuss sie ihren Göttern und sich selbst nah war.

Mit der Industrialisierung kam der Branntwein

Trunkenheit folgte aber nicht immer metaphysischen Bedürfnissen, sie war lange Zeit überlebenswichtig. Vor der Einführung der Kartoffel diente Bier in weiten Teilen Europas als Grundnahrungsmittel, als ein sicheres dazu, ohne Krankheitskeime, wie sie im Brunnenwasser lauerten. Bier am Morgen, Bier am Mittag, Bier am Abend. Das Brauen gehörte zu den häuslichen Aufgaben der Frau, getrunken haben alle, auch Kinder.

Wie das Geflecht aus Sättigung und Gemeinschaft mit den Vorboten der Industrialisierung zerriss, zeigt die britische Gin-Krise im 18. Jahrhundert. Die massenhafte Verbreitung des Branntweins zerstörte soziale Strukturen und schuf am Ende jenen Typ des einsamen Trinkers, der zu den Verlierern der Moderne gehört.

Das Bürgertum entdeckt ein neues Genussmittel: den Kaffee

Von Sinnen. "Das Fest des Bohnenkönigs", ein Gemälde von Jacob Jordaens, entstanden von 1640 - 1645.
Von Sinnen. "Das Fest des Bohnenkönigs", ein Gemälde von Jacob Jordaens, entstanden von 1640 - 1645.

© Mauritius Images

Zehnmal alkoholstärker als das gewohnte Bier, wurde der Schnaps nicht wie eine Mahlzeit zu sich genommen, sondern hinuntergestürzt. Mit dem Gin entwickelten sich der stehende Alkoholkonsum am Tresen und ein Rausch, der den Trinkenden schnell überholt, um sich ihm dann frontal in den Weg zu stellen. Es bleiben keine Erinnerungen, es entsteht keine Gesellschaft. Der Branntwein und der mechanische Webstuhl gelten als Fanal für die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten. Vorbei die pausbäckige, familiäre Epoche des Biers, wie sie William Hogarth in seinen Stichen zeigt. Vereinzelt, ausgemergelt sucht der Schnapstrinker im Rausch nur mehr das kurze Vergessen seiner unerträglichen Lage.

Damit will das Bürgertum nichts zu tun haben und verschafft sich Distinktion mit Hilfe des Kaffees, der aus den Kolonien nach Europa gelangt. Endlich ein Genussmittel, das zum Arbeitsethos und den Moralvorstellungen dieser aufstrebenden Schicht passt. Johann Sebastian Bach, der dem Alkohol gerne und umfänglich zuspricht, schreibt eine Kantate auf die neue Kaffeesucht. Der Bohnenrausch „bringt Ernüchterung, dem Gehirn mächtige Nahrung, steigert Reinheit und Helligkeit, zeigt die Wahrheit der Dinge“, so die zeitgenössische Propaganda, die heute über jedem Co-Working-Space leuchten könnte.

Rationalität und Leistung sind die ewigen Widersacher des Alkoholrauschs. Kein Wunder, dass Künstler immer diesen in Schutz genommen haben, galt er doch als der klassische Zugang zum Reich der Musen. Beeindruckend, wie Goethe seiner täglichen Weinschwemme zum Trotz noch die Feder hochbekommen hat, während der Entertainer Harald Juhnke das spießige West-Berlin mit seiner Definition von Glück reizte: „Keine Termine und leicht einen sitzen“.

Alkohol, sagt der Philosoph, ist die höhere Nüchternheit

Alkohol kennt keine Schranken, er überwindet die Blut-Hirn-Barriere, mischt Stoffwechsel und Hormonspiegel auf und kontrolliert den Schlaf. Er findet Zugang zu dem, was uns soziale Wesen werden lässt, und programmiert unser Belohnungssystem. Da er unsere Entwicklung begleitet hat, kennt er uns in- und auswendig, ist Teil unserer kulturellen DNA geworden. Für Suchtforscher ist das Schlimmste am Alkohol, dass er überall billig zu haben ist. Suchthistoriker wiederum weisen darauf hin, dass der Konsum heute jenseits aller Regeln und Rituale stattfindet, entkulturiert, wie sie es leicht pikiert nennen.

Im Supermarkt der medialen Räusche hat Alkohol viel von seiner auratischen Kraft eingebüßt. Er gilt als Risikofaktor, sollte allenfalls in homöopathischen Dosen genossen werden. Das wäre das Ende jenes Rauschs, der uns zu Menschen gemacht hat. Und wir könnten nicht mehr verstehen, welche Botschaft uns der ungarische Philosoph Béla Hamvas nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs in seiner „Philosophie des Weins“ hinterlassen hat: „Der Rausch ist ein grenzenlos höherer Zustand als die alltägliche Vernunft und der Beginn der eigentlichen Wachheit. Der Beginn von allem, was schön, groß, ernst, genussbringend und rein im Leben ist. Er ist die höhere Nüchternheit. Die eigentliche Nüchternheit.“

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