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Die Sintflut ist da. Was Michelangelo 1512 in seinem Deckengemälde in der Sixztinischen Kapelle noch alttestamentarisch verstand, trägt heute säkulare Züge.

© R/D

Risikogesellschaft: Das Schlupfloch, das uns bleibt

Der englische Philosoph Nick Bostrom diskutiert Wege aus der planetaren Selbstzerstörung.

Auf einer TED-Konferenz vor 15 Jahren legte Nick Bostrom in gebotener Kürze dar, was er für die drei größten Probleme der Menschheit hält. An erster Stelle nannte er den Tod, es folgte das Risiko, dass unsere Gattung dieses Jahrhundert nicht überlebt, und schließlich die Tatsache, dass das Leben, wie es sich Tag für Tag abspielt, nur wenige Höhepunkte bereithält, von denen wir lange zehren müssen. Könnte man all das nicht ändern?

Anders als der Schriftsteller Elias Canetti, der dem „Skandal“ des Todes mit Melancholie begegnete, hat Nick Bostrom Lösungsvorschläge. Der 1973 geborene Schwede lehrt Philosophie am St. Cross College in Oxford und ist Direktor des Future of Humanity Institute. Technikaffin und zukunftsorientiert, von wirtschaftswissenschaftlichen Kalkülen geprägt, gehört er zu jener Art von Denkern, die von Elon Musk und Bill Gates bewundert werden.

Womit wäre der Menschheit am meisten gedient? Als Utilitarist verknüpft er Nützlichkeitserwägungen mit dem Gesetz der großen Zahl. In seinem Essay „Die verwundbare Welt“ spricht er von der zerstörerischen „schwarzen Kugel“, welche die Menschheit womöglich aus ihrer „Urne der Kreativität“ zieht, in der sich auch nützliche weiße Kugeln finden sowie graue, die nur mäßigen Schaden anrichten. Es können auch mehrere schwarze Kugeln in der Urne sein.

[Nick Bostrom: Die verwundbare Welt. Eine Hypothese. Aus dem Englischen von Jan-Erik Strasser. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 112 Seiten, 12 €.]

Bisher habe die Menschheit einfach Glück gehabt, behauptet Bostrom. Am Beispiel des Kalten Krieges, zu dessen Höhepunkt die Supermächte 1986 über 70000 Nuklearsprengköpfe verfügten, illustriert er die Brisanz seiner Überlegungen. Dass es bis heute, 75 Jahre nach der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki, bei neun Atommächten geblieben ist, lässt sich als Vorteil werten, ebenso die verringerte Zahl der Sprengköpfe und das Verbot weiterer Tests.

Nuklearexplosionen mit einer Batterie?

Aber ist die Welt seither wirklich sicherer geworden? Was wäre, wenn sich Nuklearexplosionen sehr viel leichter herbeiführen lassen würden als mit einigen Kilogramm spaltbarem Material? Etwa mit einer Glasscheibe, etwas Metall und einer Batterie?

Eine starke Hypothese steht am Anfang, es folgt eine Typologie von „Schwachstellen“, ergänzt um Möglichkeiten, das risikobelastete Gebilde Welt zu stabilisieren. Die „Verwundbare- Welt-Hypothese“ lässt sich auf Deutsch wie Englisch mit „VWH“ abkürzen. „The Vulnerable World Hypothesis“ aus dem Jahr 2018 findet sich neben anderen Texten auch auf der Homepage des Autors (nickbostrom.com).

Die Hypothese selbst lautet: „Wenn die technologische Entwicklung weitergeht, dann wird irgendwann eine Reihe von Fähigkeiten erlangt werden, die die Verwüstung der Zivilisation äußerst wahrscheinlich machen, falls diese den semi-anarchischen Ausgangszustand nicht genügend weit hinter sich lässt.“

Dass die technologische Entwicklung ein Stadium erreicht hat, in dem Erfindungen nicht nur neue Risiken bergen, sondern allein durch die erhöhte Zahl von Innovationen die Wahrscheinlichkeit von Schadensfällen steigt, lässt sich kaum bestreiten. Obwohl Bostrom bewusst auf den Wahrheitsanspruch seiner These verzichtet, verwendet Bostrom den größten Teil seiner argumentativen Energie auf den „kontrafaktischen“ Nachweis ihrer Plausibilität.

Er konstruiert verschiedene Modelle dessen, was geschehen könnte, abhängig von der jeweiligen Technologie (Nuklearwaffen, Biokampfstoffe, Missbrauch von KI oder Synthetischer Biologie), der Zahl der Menschen, die willens oder fähig sind, sie zu benutzen, oder dem Anreiz, sich einer Erfindung zu bedienen. Dazu zählt er auch Status, Geld, und Ruhm – oder schlicht die Möglichkeit, sanktionsfrei davonzukommen.

Vier Typen von Schwachstellen

Insgesamt unterscheidet er vier Typen von „zivilisatorischen Schwachstellen“. Bei den Möglichkeiten, diesen gefährlichen Zustand zu stabilisieren, kommt Bostrom ebenfalls auf die Zahl Vier. Zwei scheidet er rasch aus, darunter die Beschränkung der technologischen Entwicklung. Am Ende gibt es nur eine sichere Stabilisierungsmöglichkeit: lückenlose elektronische Überwachung durch einen „effektiven präventiven Polizeiapparat“ kombiniert mit „effektiver Global Governance“. Eine wenig verblüffende Schlussfolgerung.

Bostrom definiert den Eintritt einer Zivilisationskatastrophe bei 15 Prozent Toten oder 50 Prozent der vorherigen Wirtschaftsleistung. Genauso selbstherrlich legt er fest, dass er sich mit Gegenargumenten nicht aufhalten will. Dafür sei kein Platz. Aber ginge es nicht genau um diese Abwägung?

Dabei befindet sich die Welt momentan in einer Lage, die seine Argumente aus dem Jahr 2018 mit teuflischer Aktualität auflädt. Nur passt weder die Covid-19-Pandemie noch die katastrophale Explosion von beinahe 3000 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen Beiruts ins Schema.

Zwar rufen in Zeiten der Pandemie auch jene nach Überwachung, die sonst eher lässig mit öffentlicher Ordnung umgehen, doch als Auslöser der Pandemie ist eben gerade kein willentlicher Missbrauch zu finden, der sich durch Überwachung hätte verhindern lassen. Im Fall der Ammoniumnitrat-Explosion scheint es sich, soweit man das sagen kann, um ein Versagen von Politik und Verwaltung zu handeln. Selbst wer Global Governance befürwortet, müsste im Libanon erst einmal entsprechende Strukturen aufbauen.

Quasireligiöser Glaube an die menschliche Unbegrenztheit

Der Transhumanismus, eine Denkrichtung, die es sich zur Verpflichtung macht, die menschlichen Grenzen technologisch unablässig zu erweitern, nimmt den quasireligiösen Glauben an die Unbegrenztheit der Möglichkeiten von allen sonstigen Kalkülen aus.

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Nick Bostrom hat in „Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution“ (2015) und der Aufsatzsammlung „Die Zukunft der Menschheit“ (2018) von den Transformationskräften der KI geschwärmt. Dennoch gehört er nicht zur härtesten Fraktion von Posthumanisten. Deren Traum ist das ewige Leben, notfalls auf einem anderen Planeten, falls die Erde unbewohnbar geworden sein sollte.

Die Politökonomin Maja Göpel, Mitbegründerin der Scientists for Future, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass sich allein die „Dienstleistung“ von Pflanzen bestäubenden Insekten, laut Bundesamt für Naturschutz, auf 150 Milliarden Euro pro Jahr beziffern lässt – mehr als der ausgewiesene Gewinn von Apple, Alphabet, Facebook und Microsoft zusammen. Warum Roboterbienen konstruieren, wenn die Natur es umsonst und klimaneutral macht? Wer etwas Mathematik beherrscht, sollte den Kalkülen der Transhumanisten nicht auf den Leim gehen. Der „effektive Altruismus“, den sie versprechen, ist getarnter Egoismus. Die Welt ist verwundbar, das stimmt. Aber wer für die Reduktion ihrer Verwundbarkeit auf Hochtechnologie setzt, zieht sehenden Auges die schwarze Kugel.

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