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Der britische Musiker Robert Wyatt.

© Domino

Robert Wyatt wird 70: Der zarte Gigant

Mit seiner Band Soft Machine gehörte Robert Wyatt zur britischen Progrock-Szene, als Solokünstler entwickelte er einen unvergleichlichen Stilmix aus Jazz, Folk, Rock und Kammermusik. Am Mittwoch feiert der Musiker seinen 70. Geburtstag.

Von Jörg Wunder

Es passiert nicht allzu häufig, dass in der Popmusik etwas wirklich Neues beginnt. Wie unerhört Robert Wyatts Gesang Mitte der 70er war, merkt man, wenn man sich vorstellt, wie sich der Lauf der Popgeschichte ohne seinen Beitrag entwickelt hätte. Ziemlich unwahrscheinlich, dass einige der großen Pop-Stimmen der jüngeren Zeit, etwa Antony Hegarty oder James Blake, ja sogar Chris Martin oder Thom Yorke, ohne sein Vorbild Stars geworden wären. Wyatt hat dem Ausdrucksspektrum männlicher Sänger eine Verletzlichkeit hinzugefügt, die nie mit Selbstmitleid verbunden war – zu einem Zeitpunkt, als virile Kraftvokalisten wie Robert Plant die Rockmusik dominierten.

Schon bei Soft Machine, einer der führenden Bands der südbritischen Progrock-Szene, saß Wyatt Ende der 60er nicht nur am Schlagzeug, sondern übernahm bei vielen Stücken das Mikrofon. Seine zweite Band Matching Mole bot Ähnliches mit verändertem Personal. Es war dann ein Schicksalsschlag, der Wyatts Karriere in neue Bahnen lenkte. 1973 stürzte er bei einer Party in London aus dem vierten Stock. Er überlebte, von der Hüfte abwärts gelähmt. „Rock Bottom“, ein Jahr nach dem Unfall erschienen, war nicht seine erste Soloplatte, aber diejenige, auf der Wyatt seinen unvergleichlichen Stil definierte. Die am Abgrund balancierenden Kunstlieder, die Jazz, Progressive Rock, Kammermusik und Folk verbinden und in denen Wyatt mit nadelspitzer Stimme fragile Melodielinien intoniert, sind Lichtjahre entfernt von allem, was in einer Hitparade auftaucht. Trotzdem gelang Wyatt 1974 mit einer Coverversion des Monkees-Hits „I’m A Believer“ der Sprung in die Top 40. Sein Auftritt bei „Top of the Pops“ sorgte für Wirbel, weil die BBC keinen Rollstuhlfahrer zeigen wollte – am Ende setzte sich Dickkopf Wyatt durch.

Robert Wyatt hatte seine Nische gefunden, die er sich kommod einzurichten verstand. Ohne Zeitdruck arbeitet er an neuen Stücken, von einer eingeschworenen Fangemeinde sehnsüchtig erwartet. Neun Alben sind so in 44 Jahren entstanden, nicht allzu viel. Und doch hat jedes von ihnen Eindruck hinterlassen, nicht zuletzt bei anderen Musikern, was sich in einer Vielzahl von Kooperationen niedergeschlagen hat: Wyatt hat seine Stimme ebenso für Björk, Brian Eno oder Hot Chip erklingen lassen wie auf Kompositionen von John Cage oder Michael Mantler. Als überzeugter Marxist hat er in den 80ern gegen die Thatcher-Regierung angesungen, hat streikende Bergarbeiter unterstützt, den Falkland-Krieg in dem wunderbaren Elvis-Costello-Song „Shipbuilding“ gegeißelt und Sympathie für lateinamerikanische Freiheitsbewegungen bekundet.

Auf dem Cover der kürzlich erschienenen grandiosen, über zwei Doppel-LPs verteilten Werkschau „Different Every Time“ (Domino) blickt er mit mächtigem Rauschebart so stolz in die Kamera wie ein kubanischer Revolutionsveteran. Vermutlich muss man sich Robert Wyatt, der seit über 40 Jahren mit der Künstlerin Alfreda Benge verheiratet ist, als glücklichen Menschen vorstellen. Heute feiert der zarteste Sänger, seit es Popmusik gibt, seinen 70. Geburtstag.

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