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Kultur: Rolle rückwärts

Was wäre, wenn es einen „Timer“ gäbe, der jedem seine verbleibende Lebenszeit anzeigt. Mit einer einfachen digitalen Uhr, die rückwärts läuft.

Was wäre, wenn es einen „Timer“ gäbe, der jedem seine verbleibende Lebenszeit anzeigt. Mit einer einfachen digitalen Uhr, die rückwärts läuft. Würden wir dann vielleicht anders leben – wenn wir ES wüssten? Wer wären wir?

Der Künstler Edgar Orlaineta drehte ein kleines Video, das diese große Fragen impliziert. Mitten im Gewusel am Alexanderplatz im Ausstellungsraum JET (Memhardstr. 1, bis 8. Juli) läuft ein Filmloop des Mexikaners auf Berlin-Besuch: Man hört eine Melodie, die vorwärts spielt, und sieht dabei einen CD-Player, dessen Timer rückwärts läuft. Und beim letzten Ton liest man die Zahlen „0:00“. Dieser kurze Film stellt diese Frage der Fragen so einfach und doch so paradox klar – das nimmt schon mal kurz den Atem. Da steht man. Hält still. Und atmet dann auf.

Orlaineta formuliert seine Fragen visuell leise, detailreich flüsternd, erdverbunden und eher nebenbei. Ja, was wäre, wenn ein Thonet-Stuhl vier Schirmgriffe anstatt der Füße hätte? Wenn man in ein Paar Badelatschen schlüpft, bei dem man anstelle der Gummisohle gleich den Boden berührt. Und was passierte, wenn noch viel öfter mal ein Künstler selbst(so wie hier Tilman Wendland) eine Ausstellung kuratiert? Dann würden wir sicher auch die Handschrift des Kurator-Künstlers im Subtext mitlesen. Denn steckt nicht ein kleines Stück Kuratorsein jedem Künstler mit im Blut?

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Umgekehrt ist es genauso: Jemand, der sonst Ausstellungen beschreibt, warum sollte der nicht auch eine Ausstellung machen? Die Autorin Michaela Nolte wagte schon öfter den Sprung in die Kuratorenperspektive. Derzeit formuliert sie ihre aktuelle Version der Franticek-Klossner Ausstellung. Der Schweizer Künstler stellt in der Galerie Mönch (Reichsstraße 52, bis 8. Juli) die absurd klingende Frage „...was bleibt, wenn der Kopf schmilzt?“.

Wortwörtlich: Klossners Kunst schmilzt. Ein Männer-Torso, der tropft und taut. Das Tauwasser wird am Boden in einer rechteckigen Schale gefangen. Es war gefärbt. Und allmählich fängt dieses rote Restwasser selbst an, sich wieder in Kunst zu verwandeln. Zu einem liquiden Bild am Boden, bei dem sich die Farbschimmer vermischen, schimmern, reflektieren. Das Eis, zwischendurch Wasser gewesen, verdunstet, wird Gas. Klossners Fotografien (zwischen 1500 und 2200 Euro) halten die Verwandlungen der Aggregatzustände in artifizieller Genauigkeit fest. Die Verwandlung der Materie lässt sich so dokumentieren. Das Verwandeln des Selbst so anschaubar zu machen – so fließend wie beim Wasser –, das geht offenbar nicht.

Thea Herold

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