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Roman: Alter ist keine Krankheit

Finnische Endzeitstimmung: Robert Asbacka erzählt eine moderne Passionsgeschichte.

Eines Tages gibt die Kunststudentin Agnes ihrem Nachbarn Thomasson ein Blatt Papier, auf dem nur eine einzige Frage steht: „Was war der schmerzhafteste Augenblick in deinem Leben?“ Thomasson kommt zunächst nicht dazu, sie zu beantworten, weil ihn, Ironie des Schicksals, der Schmerz in Form eines Unfalls außer Gefecht setzt. Nicht der erste Unfall, den der knapp 80-Jährige innerhalb kurzer Zeit erleidet; nicht der schlimmste Schmerz, den er auszuhalten hat in seinem Leben.

„Der Orgelbauer“ heißt der Roman des 1961 in Finnland geborenen und in Schweden lebenden Autors Robert Asbacka im Original, in dem ein tiefer, melancholischer Grundton herrscht und dem ein Musikstück seine Struktur vorgibt: „Membra Jesu nostri patientis sanctissima“. „Die heiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus“ ist eine Kantate von Dieterich Buxtehude und das Lieblingsstück des alten Thomasson. Wie Buxtehude sein barockes Stück hat Robert Asbacka seine Romankapitel den Gliedmaßen seines Protagonisten zugeordnet: Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz, Gesicht – so wird „Das zerbrechliche Leben“ zu einer modernen Passionsgeschichte, deren Wirkung so mächtig ist, weil sie so nüchtern inszeniert ist.

Johannes Thomasson lebt allein in einer finnischen Kleinstadt. Hierher ist er mit seiner Frau Siri gegangen, als diese ihre Stelle als Kantorin angenommen hat; hier ist er geblieben, nachdem Siri am 28. September 1994 beim Untergang der „Estonia“ ums Leben kommt. Wie Robert Asbacka selbst hat auch seine Thomasson-Figur in den 80er Jahren auf eben diesem Unglücksschiff gearbeitet, das zu diesem Zeitpunkt noch den Namen „Viking Sally“ trug.

Rund 850 Menschen starben bei dem Unglück. Die Passagen, in denen Thomasson die letzten Minuten Siris auf dem leckgeschlagenen Schiff in immer neuen Variationen imaginiert, gehören zu den beklemmenden Höhepunkten des Romans. Bis heute ranken sich Mythen um die Tragödie; per Gesetz ist es verboten, sich der Unglücksstelle zu nähern.

Auf den Tag genau zwölf Jahre ist Siri nun tot; Thomasson macht einen Spaziergang, spricht dabei mit seiner Tochter Maja (an Krebs gestorben im Alter von 32), eilt einem Jungen zu Hilfe und verstaucht sich dabei den Fuß – der Beginn seines körperlichen Niederganges, der zugleich aber das Ende seiner sozialen Isolation bedeutet: Die Hilflosigkeit im Alltag macht es nötig, dass Thomasson die Menschen an sich heran lässt. Agnes, die Nachbarin. Oder Mika, den Jungen, der mit seiner Familie in jenem Haus wohnt, in dem zuvor Thomasson und Siri gelebt haben. Ohne große Effekte herrscht in „Das zerbrechliche Leben“ Endzeitstimmung. Die große Fabrik im Ort steht vor der Schließung; vor allem aber sind es die kleinen Verfallssignale, die Thomasson an sich selbst und um sich herum entdeckt. Hier guckt sich einer selbst bei einem unaufhaltsamen Prozess zu: „Nein, er war nicht kränklich. Er war alt. Das Alter ist keine Krankheit, aber man stirbt daran.“

Doch Thomasson ist geistig präsent genug, um in aller Langsamkeit Bilanz zu ziehen. Von Siri beispielsweise ist nichts geblieben; noch nicht einmal ein Körper, den man hätte beerdigen, von dem man hätte Abschied nehmen können. Stattdessen hat Thomasson in mühevoller Arbeit in seiner kleinen Wohnung eine Orgel gebaut, die er nicht spielen kann. Es hätte, um im religiösen Kontext zu bleiben, ebenso gut ein Altar sein können: „Siris Orgel. Die er gebaut hatte, damit sie da stehen und auf sie warten sollte, bis sie zurückkehrte. Er wusste, dass sie nicht zurückkehren würde. Trotzdem baute er die Orgel. Damit sie da war. Wenn sie von ihrer Reise zurückkäme.“

Einsamkeit, Alter, Tod und Verlust – darum kreist Robert Asbackas Roman in langsamen Bewegungen, und entwickelt dabei einen unheimlichen Sog. Ein Satz kommt dem alten Thomasson zum Ende hin in den Sinn: „Es wird allmählich Zeit, sich nach Hause zu begeben.“ Wo auch immer das für ihn sein mag.

Robert Asbacka: Das zerbrechliche Leben. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Carl Hanser Verlag, München 2010. 316 Seiten, 19,90 €. – Asbacka liest heute Montag um 20 Uhr zusammen mit Joel Haahtela im Literaturhaus Berlin. Die Veranstaltung gehört zur Reihe „Kaksinkertainen/Dubbelt/Doppelt“, mit der sich die auch auf Schwedisch geschriebene Literatur Finnlands gerade in den deutschen Literaturhäusern vorstellt. Ausführliche Informationen: www.literaturhaus.net

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