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Cover des Romans "Blaue Blumen"

© Promo

Roman "Blaue Blumen" von Carola Saavedra: Adressat unbekannt verzogen, Empfänger gefunden

Ein Brief gerät an den falschen Adressaten und verändert dessen Leben. In ihrem Roman „Blaue Blumen“ treibt die Brasilianerin Carola Saavedra ein Verwirrspiel mit Liebesbriefen.

Eines Morgens steckt in Marcos Briefkasten ein hellblauer Umschlag. Adressiert ist er an einen Fremden, offenbar seinen Vormieter. Als Absender findet sich nur ein handschriftliches A. in schwarzer Tinte. Ein Liebesbrief? Marco vermutet richtig – und von nun an erreicht ihn jeden Morgen, neun Tage lang, ein weiterer Brief. Carola Saavedras Protagonist, der erst vor Kurzem seine Wohnung gemietet hat, wird sie alle lesen, in einer Mischung aus „Indiskretion und Neugierde“. Und es wird ihn aus der Bahn werfen. Noch jede Frau hat dem geschiedenen Mittvierziger das Gefühl gegeben, „dass nichts, was er war oder tat, ausreichte“. Von seiner Ex-Frau bis zur aktuellen Freundin Fabienne: Sie alle sind in seinen Augen „Tentakelfrauen, Vampirfrauen, die ihn in die Mangel nahmen, ihn aussaugten, wo sie nur konnten, und ihn dann einen Egoisten nannten.“

Die lebensverändernde Wirkung der Lektüre liegt aber auch an den Briefen selbst. Von Beginn an ist klar, dass sich hier eine von Liebesschmerz gebeutelte Frau äußert. Mit ihren Worten will sie ihren „Liebsten“ zurückgewinnen, der sich davongemacht hat. „Ich schreibe dir, damit du mich liest. Ganz einfach. Damit du mich liest und zurückblickst, damit du mich liest und denkst, dass es etwas verblüffend Schönes in mir gibt, etwas, das du nicht gesehen hast, etwas, das unbemerkt an uns vorbeigegangen ist.“

So folgt auf erotische Tagträume das Bekenntnis, schon seit Tagen die Wohnung nicht mehr verlassen zu haben (wer gibt dann die Briefe auf?), an Rachefantasien schließen sich Reflexionen über die Liebe an, etwa darüber, ob das Ende einer Liebe nicht bereits mit ihrem Anfang beginnt. Vor allem aber wird in den Briefen immer wieder an die Trennung selbst erinnert: „Ich möchte glauben, eine Trennung kennt kein Ende, und der letzte Tag, die letzte Nacht wiederholen sich unaufhörlich.“ Kommunikationsformen wie der Liebesbrief, denen die Beziehungsebene wichtiger ist als die des Inhalts, führen zwangsläufig zu Redundanzen: In den Briefen der Unbekannten weigern sich selbst die Sätze loszulassen, treiben einfach immer weiter, statt den abschließenden Punkt zu setzen.

Liebe, Tod und die Einsamkeit des Individuums

Dass es um um einen Fall von Hörigkeit und Gewalt geht, wird erst allmählich klar. So nähert sich die Erinnerung an das Ende einem schockierenden letzten Akt. Offenkundig handelt es sich bei dem eigentlichen Empfänger um einen empathielosen Sadisten, für den Sätze wie „Es erreicht mich nicht, wenn du weinst“ typisch waren. Seine Partnerin demütigte er mal durch verächtliches Schweigen, mal durch seine „flache Hand“. Was nur dazu führte, dass die Briefschreiberin anderntags ihre blauen Flecken im Spiegel betrachtete und in den „ausschweifenden Mustern“ seinen ultimativen Liebesbeweis zu erkennen glaubte.

„Blaue Blumen“ heißt dieser neue Roman von Carola Saavedra; es ist ihr zweiter, das portugiesische Original erschien bereits 2008. Er bestätigt eindrucksvoll, wie sehr sich diese brasilianische Autorin, 1973 in Chile geboren, für die ganz großen Themen interessiert: Liebe, Tod und die Einsamkeit des Individuums. Und wie gern sie sich dabei von Einsichten der Kommunikationswissenschaft anregen lässt – ein Fach, das Saavedra übrigens in Deutschland studiert hat.

So spricht in dem faszinierenden Künstler- und Liebesroman „Landschaft mit Dromedar“ (2013 auf Deutsch erschienen) eine Frau ihre Geschichte über Wochen hinweg auf Tonbänder; ob sie der Adressat je hört oder wer die Bänder am Ende transkribiert, bleibt offen. Auch die Briefe in „Blaue Blumen“ sind ein Monolog in Fortsetzungen – unterbrochen von Marcos Geschichte, deren Ton sich dem Stil der Briefe bis in die Wortwahl hinein annähert, je mehr Marco von den Schreiben infiziert wird. In einem Schnellrestaurant gegenüber dem Postamt hält Marco tagsüber Ausschau nach der unbekannten Briefschreiberin. Als er sich aber nach dem neunten und letzten Brief ernsthaft auf die Suche macht, erwartet ihn eine verstörende Entdeckung.

Natürlich ist für Marco diese Unbekannte alles andere als eine „Vampirfrau“, eher eine Gestalt gewordene Männerfantasie. Da lässt sich eine Frau wie den letzten Dreck behandeln und ist bereit, alles zu verzeihen: Das evoziert beim heimlich mitlesenden Marco, den „zum ersten Mal seit langer Zeit etwas wirklich berührte und erreichte“, nicht nur Empörung, sondern auch das Gefühl, diese Frau als Einziger wirklich zu verstehen. Bis er glaubt, der wahre Empfänger dieser Briefe zu sein.

Eine Vorstellung, die sich auch in den Briefen findet, versucht die Unbekannte doch ihren „Liebsten“ mit der Vorstellung zu provozieren, ihre Briefe könnten irrtümlich von einem Fremden gelesen werden: „Jemand, der so ganz anders ist, mich aber liest, wie ich mir wünschte, von dir gelesen zu werden.“ Damit freilich wird der Plot zu einer schönen Metapher auf die Literatur an sich: Denn was gewährt sie anderes als jenen „Zugang zur Intimität einer anderen Person“, den sich Marco verschafft, und die Möglichkeit, sich von Leid und Liebe anderer anstecken und, im besten Fall, aus der Bahn werfen zu lassen?

Carola Saavedra: Blaue Blumen. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. C.H. Beck, München 2015. 223 S., 18,95 €.

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