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Schweizer Schriftsteller mit großer Fangemeinde. Peter Stamm, 50.

©  Gaby Gerster/Verlag

Roman: Nur die Dämonen bleiben

Das Leben ist ein Rollenspiel: Der Schweizer Peter Stamm radikaliert sein Schreiben mit dem Roman „Nacht ist der Tag“.

Ein Augenblick, der über ein Leben entscheidet. Eine Silvesterfeier, ein Streit, eine nächtliche Heimfahrt in angetrunkenem Zustand, ein Reh, das auf die Straße läuft, ein Zusammenstoß. Mann weg, Nase weg, Existenz weg. So ergeht es Gillian, einer der beiden Protagonistinnen von Peter Stamms neuem Roman „Nacht ist der Tag“. Gillian hat kein, nein: Sie ist ein Fernsehgesicht. Moderatorin einer Kultursendung im Fernsehen, eine schöne Frau, die in einer nicht dauerhaft glücklichen, aber komfortablen Ehe mit dem Kulturredakteur Matthias lebt. Gillians Gesicht ist ihr Kapital, ihre Visitenkarte. Am Tag des Jahreswechsels entdeckt Matthias in Gillians Schreibtisch eine Serie mit Nacktfotos; es kommt zum Konflikt, er setzt sich in der Nacht noch ans Steuer. Als Gillian nach dem Unfall wieder aufwacht, ist Matthias tot und ihr Gesicht entstellt. Die Nase fehlt, „wir werden Ihnen eine neue machen“, sagt der Arzt, und: „In einem halben Jahr wird man kaum noch etwas sehen.“

Der Schweizer Peter Stamm ist ein Schriftsteller mit einer Gemeinde. Und mit einem kargen, unverwechselbaren Sound; mit einer Sprache, die mit dem, was sie nicht ausspricht, doch so viel zu sagen in der Lage ist. In „Nacht ist der Tag“ braucht es einen kurzen Anlauf, bis dieser Sound zum Tragen kommt, denn er muss sich erst aus den halb halluzinatorischen Unterbewusstseins- und Bewusstseinsfragmenten Gillians unmittelbar nach dem Unfall heraus entwickeln. Ob Stamm in Männer oder Frauen blickt, macht keinen Unterschied; er erzählt nicht von Geschlechtern, sondern von Menschen; davon, was Menschen sind und zu sein scheinen, vor sich, vor anderen.

Das gilt besonders im Fall des neuen Romans. Das Muster von Identitätsbildungen, -auflösungen und Neuformationen spielt Stamm auf unterschiedlichen Ebenen konsequent durch. Die Nacktfotos in Gillians Schreibtisch hat ein Künstler namens Hubert gemacht, dem der zweite Teil des Romans gewidmet ist, bevor Gillian und Huberts Leben im dritten Kapitel (und in der Gegenwart) erneut zusammengeführt werden. Hubert hat eine bescheidene Form von Prominenz mit einer Serie von Bildern erreicht, für die er Hausfrauen auf der Straße ansprach und sie dazu brachte, banale Tätigkeiten des Alltags für ihn vor der Kamera auszuführen – allerdings nackt. Diese Fotografien wiederum wurden von Hubert abgemalt. Ein Kunstprojekt, das Hubert einen Beitrag in Gillians Sendung eingebracht hat.

Später nimmt Gillian erneut, zunächst unter einem Tarnnamen („Fräulein Julie“, die tragische, in gesellschaftlichen Normen zerriebene Strindberg-Figur), Kontakt zu Hubert auf. Möglicherweise ist das bereits der erste Schritt hin in Richtung Selbstverlust ohne eine Perspektive zur Selbstfindung. Derlei Kategorien muten esoterisch an; Peter Stamm konterkariert den Esoterik-Verdacht auf seine eigene, ironische Weise. Der auf Gillians Drängen hin unternommene Versuch, Hubert Modell zu stehen, endet in einer künstlerischen wie persönlichen Enttäuschung: Sie zieht sich aus, er wirft sie irgendwann raus. Schon ihr Schauspiellehrer hatte Gillian immer gesagt, sie sei zu wenig sie selbst, sie spiele zu sehr. Von Hubert muss sie hören, in ihr sei kein Leben. Dann kamen der Unfall (bei Gillian) und eine Beziehungs- und Schaffenskrise (bei Hubert). Die Erkenntnis, die „Nacht ist der Tag“ für Gillian bringt, ist die, dass es erst einer kompletten Häutung (im wahrsten Sinne des Wortes), einer Abstreifung aufgezwungener Daseinsformen bedarf, um sich selbst nahe zu sein. „Das Spiel“, so lautet der letzte Satz, „war zu Ende, sie war frei und konnte gehen, wohin sie wollte.“ Das ist einer der klassischen offenen Sätze, mit denen Stamm seine Romanfiguren (und seine Leser) in eine offene Zukunft, in die Kontingenz entlässt. Festlegungen treffen, auch innerhalb des Romans, stets andere. Alles ist Inszenierung, Rollenspiel, Fremdbestimmung: die Ehe, das Fernsehen und die Medien ohnehin, aber auch die Kunst. Manchmal hat das auch gewollt komische Seiten. Als sich ein Autor für einen Fernsehbeitrag Notizen in ein Moleskine machen soll, schreibt er die Worte „So stellen sich die Leser den Schriftsteller vor“.

Peter Stamm hat zuletzt mit dem Roman „Sieben Jahre“ und dem Erzählungsband „Seerücken“ die Messlatte denkbar hoch gelegt. „Nacht ist der Tag“ allerdings ist ein weitaus radikaleres Buch, als es auf den ersten Blick scheint. Das wird im letzten Drittel des Romans deutlich. Gillian heißt nun Jill und tritt hin und wieder in ihrer Tätigkeit als Chefentertainerin eines Berghotels auf der Bühne eines Komödienstadels auf. Wenn das keine zynische Wendung ist, dann zumindest eine hochsatirische. Auf einer höheren Ebene allerdings vermittelt sich eine Gewissheit: Ganz gleich, welche Rolle man auch spielt – die eigenen Dämonen bleiben einem stets an der Seite.

Peter Stamm: Nacht ist der Tag.

Roman. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013,252 Seiten, 19,99 €.

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