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Der Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Emmanuel Carrère.

© Joel Saget / AFP

Roman von Emmanuel Carrère: Das Ich ist mein Dietrich

Auf Sauftour durch Sibirien: „Ein russischer Roman“ von Emmanuel Carrère liegt jetzt in neuer Übersetzung vor. In Frankreich wurde der Roman heftig diskutiert.

Was ist ein „russischer Roman“? Es scheint so, dass die russische Literatur und Kultur von einer widersprüchlichen Melancholie geprägt wird. Fjodor Dostojewski konstatierte in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“, dass das wesentlichste „Bedürfnis des russischen Volkes“ darin bestehe, „überall und in allem zu leiden“. Der „Strom der Leiden“ entspringe „der Tiefe des Volksherzens“.

Er selbst machte Erfahrungen in einem sibirischen Straflager, und in seinen Romanen thematisiert er immer wieder die Leidenskrisen einfacher Menschen. Leo Tolstoi hingegen beklagte, dass aus der christlich-orthodoxen Ideologie einiger Autoren eine „brutale“ Literatur des Leidens hervorgegangen sei. Und Anton Tschechow reduzierte die „greifbare“ literarische Substanz „der berühmten russischen Seele“ auf die Verbindung von „Alkohol und Weltschmerz“. Ein inzwischen klassisches Beispiel dafür ist Wenedikt Jerofejews „Reise nach Petuschki“. Der Ich-Erzähler beschreibt eine Eisenbahnfahrt als Sauftour, die von Station zu Station surrealistischer wird und als „Höllenfahrt“ endet.

Von einer solchen Horrorfahrt berichtet auch Emmanuel Carrères „Un roman russe“ (2007), der jetzt in einer deutschen Neuübersetzung vorliegt. Es geht um eine Reise durch die eisigen Steppen Sibiriens, wobei der Wodka in Strömen fließt und intime, erotische Träume in grausige Albträume verwandelt. Der Autor stimmt sich mit seinem Filmteam auf die Dokumentation eines schaurigen Ereignisses ein.

In dem 2000 Kilometer von Moskau entfernten Kotelnitsch wird nach 60 Jahren Lagerhaft ein ehemaliger ungarischer Soldat entlassen. Man hatte ihn verschleppt und niemand vermisste ihn. Er war aus der Welt gefallen und ist nun wieder aufgetaucht. Die Dokumentation dieses verstörenden Falls motivierte den 1957 in Paris geborenen Carrère zur Spurensuche nach seinem 1944 ebenfalls verschwundenen russisch-georgischen Großvater Georges Surabischiwili, dessen Schicksal als dunkles Familiengeheimnis gehütet wurde.

Ein Jahr lang auf der Bestsellerliste und kontrovers diskutiert

In Frankreich stand das Buch ein Jahr lang auf der Bestsellerliste und löste heftige Kontroversen aus. Kann ein Franzose einen „russischen“ Roman schreiben? Sein Leben und Werk seien bisher „von Wahnsinn und Horror“ verfolgt, erklärte der Autor. Er hoffe, diesem Teufelskreis durch die Enthüllung der russischen Wurzeln seiner nach Frankreich emigrierten Familie und durch eine neue Liebesgeschichte „entkommen“ zu können. Bedroht von solchen Enthüllungen war aber vor allem die Karriere seiner Mutter , der berühmten Wissenschaftlerin und Politikerin Hélène Carrère d’Encause.

So hatte ihr Sohn erfahren müssen, dass offensichtlich die „faschistischen Motive“ des Großvaters, der Hitler und Mussolini verehrte, zu seiner Hinrichtung als „Kollaborateur“ geführt hatten. „Wahnsinn und Horror holten mich wieder ein“, gestand der Autor, auch „im Privatleben“. Die Wirklichkeit habe sich „seinen Plänen entzogen“. Literarische Synthese und Sinnfindung drohten am übermächtigen Erlebnis der Diskontinuität, des Bruches und der Ohnmächtigkeit gegenüber blinden Gewalten, die mit dem Schicksal der Menschen spielen, beinahe zu scheitern.

Die Übersetzerin Claudia Hamm verfolgt Carrères literarischen Weg seit Jahren und hat früh erkannt, dass er sich über „gängige Gattungsdefinitionen“ hinwegsetzt. Die Ich-Perspektive habe er sich „zum Dietrich gemacht“, mit der sich jede Tür öffnen ließ. Auch in den Romanen „Limonow“, „Alles ist wahr“ oder „Das Reich Gottes“ skizziere er lebende Personen und (kultur)geschichtliche Strömungen aus der Position des beobachtenden, einfühlenden Gegenübers, setze sich in ein Verhältnis zu ihnen, porträtiere sich gleichzeitig selbst und reflektiere die Umstände der Textentstehung.

Das doppelte Ich unterstreicht die Bedeutung von Identität und Exil

Die subjektive Perspektive des „involvierten Zeugen“ ist dem Autor zum Erkennungsmerkmal geworden, er interessiert sich leidenschaftlich für das Ich – sein eigenes, aber auch das der anderen: „Wenn jemand eine Geschichte erzählt, weiß ich gern, wer sie mir erzählt. Das ist es, was mich an Ich-Erzählungen reizt, warum ich selbst welche schreibe und warum es mir mittlerweile unmöglich geworden ist, anders zu schreiben, um was für einen Text auch immer es sich handelt.“ In seinem russischen Roman erklärt er, dass die erste Person Einzahl auf Russisch wörtlich übersetzt „im ersten Gesicht der Einzahl“ heiße – und dank der russischen Sprache enthülle sich ihm sein erstes Gesicht. Dieser Hinweis auf das doppelte Ich unterstreicht die besondere Bedeutung von Identität und Exil für Carrères Rolle als französisch-russischer Autor. Familienbiografie und Zeitgeschichte scheinen unauflösbar ineinander verflochten zu sein.

Sein autobiografisches Textgewebe erinnert nicht nur an russische Leidensgeschichten, sondern auch an Exildramen wie Else Lasker-Schülers „IchundIch“. Mit dieser Formel umschrieb die deutsch-jüdische Dichterin ihre eigene Teilung in „zwei Hälften“ und zugleich die Rolle ihrer Mutter als „Goethehochverehrerin“ und „Patin“ ihres Leidens. In ihrer Bühnendramaturgie wird die überlieferte Anordnung von historischen und literarischen Ereignissen bewusst außer Kraft gesetzt. Auch Carrère, der sein Buch mit einem Trostbrief an seine Mutter beendet, begreift literarische Texte als „Drehbücher, die wir ausarbeiten, um die Wirklichkeit zu zähmen“.

Emmanuel Carrère: Ein russischer Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 282 Seiten, 22 €.

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