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Auf dem Weg nach Hollywood: Vicki Baum 1936 an der Waterloo Station.

© imago images/United Archives International

Roman von Vicki Baum: Ein tückisches Reh

Endlich wiederentdeckt: Vicki Baums 1951 erstmals veröffentlichter Roman „Vor Rehen wird gewarnt“.

Wenn davor gewarnt wird, sich Rehen zu nähern, ist das etwas Seltenes. In der Regel wird ja vor bissigen Hunden gewarnt. Zumindest verhält es sich in hiesigen Gefilden so, andernorts gelten Warnhinweise allerdings auch Nilpferden, Bären, Krokodilen, Elchen und anderen potentiell gefährlichen Tieren.

In Vicki Baums erstmals 1951 veröffentlichten und jetzt neu aufgelegten Roman „Vor Rehen wird gewarnt“, den die österreichische Schriftstellerin im amerikanischen Exil in englischer Sprache verfasste (Originaltitel: „Danger from Deer“), muss der alternde Rechtsanwalt George Watts immer an ein entsprechendes Warnschild in einem Wildpark denken, wenn er einer gewissen Ann Ambros begegnet: „Die Gefahr ist besonders groß während der Brunstzeit“. 

Ann Ambros, Vicki Baums schillernde, moralisch höchst zweifelhafte Protagonistin, verdreht mit ihren Rehaugen und ihrer vermeintlichen Selbstlosigkeit besonders ihrer männlichen Umgebung den Kopf und ist dafür berühmt berüchtigt.

Sie nimmt sich, was sie will

Rehe, vor allem deren Kitze, sind auf den ersten Blick niedlich und wecken Beschützerinstinkte. Man denke an die Bambi-Geschichte von Vicki Baums Landsmann Felix Salten – wobei in der berühmten Disney-Verfilmung aus Saltens Reh ein Hirsch gemacht wurde.

Ann Ambros aber, das tückische Reh, nimmt sich skrupellos alles, was sie will. Das ist ihr erklärtes Lebensmotto, und damit erscheint sie hinreichend charakterisiert: eine falsche Schlange, ein durchtriebenes Biest. 

So einfach jedoch macht es Baum sich und ihren Leserinnen und Lesern dann doch nicht, auch wenn jede Warnung durchaus berechtigt ist, sich dieser Person zu nähern. Ann Ambros lässt nicht nur zerstörte Leben, ja, Leichen hinter sich zurück, sondern auch verbrannte Häuser und verwüstete Landstriche. Trotzdem ist auch sie eine Liebende.

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Vicki Baums Roman ist raffiniert gebaut, geradezu spielerisch virtuos. Die Handlung beginnt mit einer Zugfahrt. Nach dem Tod ihres Mannes Florian, eines berühmten Wiener Geigers, besucht Ann ihren Sohn, dessen Ehe ihr ein Dorn im Auge ist. 

Mit dabei ist Stieftochter Joy. Deren Glück hat Ann bereits auf dem Gewissen, Joy scheint dem Wahnsinn nahe. Ann will ihren Sohn für sich allein, was wiederum Joy nur zu bewusst ist. Sie vergöttert ihren Bruder und will ihn vor dem Unglück, das ihm blüht, bewahren.

Also stößt Joy ihre Mutter kurzerhand auf offener Strecke aus dem fahrenden Zug. Eine furiose Eröffnung. Es folgt Anns Lebensgeschichte im Rückblick, angefangen mit der Kindheit, in der sie ihre raffinierte Manipulationsfähigkeit ausbildet und perfektioniert. 

Ein Auge auf den Mann der Schwester

Als ihre Schwester Maud ausgerechnet den Mann heiratet, den sie sich wünscht, entwirft Ann einen perfiden, tödlichen Plan, ihn sich doch selbst zu angeln. Einer der Höhepunkte dieses Romans ist das große Erdbeben von San Francisco im Jahr 1906. 

Für die Naturkatastrophe ist Ann zwar nicht verantwortlich, aber die verheerenden Auswirkungen weiß sie geschickt zu nutzen. Während der Lektüre bleibt die Anfangsszene stets präsent; auch das Gefühl, vielmehr: die schlimme Befürchtung, dass Unkraut so schnell nicht vergeht, selbst wenn es aus einem Zug gestoßen wird.

Vicki Baum ist eine der großartigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts – und vielleicht dessen bekannteste Unbekannte. 1888 in Wien geboren, machte sie zunächst eine Ausbildung zur Harfenistin und spielte sogar in einem Wiener Orchester. 

Hellsichtiger Umzug nach Kalifornien

Bald jedoch verschlug es Baum nach Berlin, wo sie für Zeitschriften und Verlage arbeitete und mit ihrem Debütroman „Stud. chem. Helene Willfüer“ schlagartig von sich reden machte.

Davon, wie gut Vicki Baum die Welt und die Menschen kannte, zeigten sich schon Klaus und Erika Mann beeindruckt: „Sie begreift so genau und so warmherzig ihre Schicksale und die Beziehungen, die sie miteinander knüpfen“. 

Baums 1929 veröffentlichter Roman „Menschen im Hotel“ ist ein Klassiker der Weimarer Republik. Der Roman wurde am Broadway gespielt und 1932 mit Greta Garbo auch in Hollywood verfilmt, unter der Mitarbeit Vicki Baums.

Im gleichen Jahr siedelte sie hellsichtig nach Kalifornien über und entging so der Verfolgung durch die Nazis, die sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung als „Asphaltliteratin“ ächteten und ihre Werke 1933 bei der Bücherverbrennung in Flammen aufgehen ließen. 

Filmplakat zu „Grand Hotel“, nach dem Roman „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum.
Filmplakat zu „Grand Hotel“, nach dem Roman „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum.

© imago images/Prod. DB

Ähnlich wie Thomas Mann, in dessen Nachbarschaft in Pacific Palisades sie später lebte, blieb Vicki Baum auch im Exil der Erfolg nicht versagt. Trotzdem geriet sie hierzulande weitestgehend in Vergessenheit.

Etliche ihrer Romane wurden verfilmt. So wie auch „Vor Rehen wird gewarnt“, allerdings nicht, wie man denken könnte, mit Audrey Hepburn, die bekanntlich „Hollywoods Reh“ genannt wurde (und tatsächlich einmal ein leibhaftiges Reh adoptierte), sondern 1956 in Deutschland mit Maria Schell.

Was schief ging, wie der „Spiegel“ damals über Horst Hächlers Verfilmung urteilte: „Maria Schell, derentwegen Vicky Baums Roman ,Vor Rehen wird gewarnt’ entstellt wurde, spielt konsequent an der Rolle vorbei: Sie macht auf schelmisch, hübsch und rührend; aber nie zeigt sie – wie Vicky Baums Romanfigur – egoistische Bosheit.“ Die fünfziger Jahre waren noch nicht bereit für eine Frauenfigur wie Ann Ambros. 
Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt. Roman. Arche Verlag, Zürich 2020. 412 Seiten, 24 €.

Tobias Schwartz

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