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Die Berliner Schriftstellerin Karoline Menge, 32.

© Max Menge/Verlag

Roman "Warten auf Schnee": Verlorene Straße

In Karoline Menges märchenhaften Debütroman „Warten auf Schnee“ schlagen sich zwei Schwestern, deren Mutter verschwunden ist, in einem Dorf alleine durch.

Hic sunt dracones“ („Hier sind Drachen“) stand auf einigen frühen Weltkarten, um die Ozeane jenseits der bekannten Welt als unheimliche, von Fabelwesen und Seeungeheuern bewohntes Gebiet zu markieren. Einige Jahrhunderte zuvor noch glaubten die Menschen, die Welt sei eine Scheibe, an deren Ende man ins Nichts fiele.

Karoline Menges Debütroman „Warten auf Schnee“, für den sie gerade den Ulla-Hahn-Autorenpreis erhalten hat, spielt zwar in der Neuzeit, doch ihre märchenhafte Geschichte rund um zwei verlassene Schwestern ist gespickt mit Elementen solch vergangener Weltbilder. Isoliert wachsen die Mädchen in einem alten Häuschen am Rand eines Dorfes auf. Radios und Fernseher werden erwähnt, ansonsten jedoch ist ihre einzige Verbindung zum Außen der Lastwagen, der einmal im Monat den Kiosk beliefert.

Zeitlos – besser noch: aus der Zeit gefallen – wirkt dieser Mikrokosmos, dessen geografische und metaphysische Begrenzung eine Hügelkette bildet, die weder die Ich-Erzählerin Pauli noch deren Mutter je überschritten haben. Nun allerdings, seit dem letzten Winter, ist die Mutter spurlos verschwunden. Den anderen Bewohnern galt sie schon lange als Spottfigur; zuletzt ging sie nur noch maskiert und verkleidet ins Dorf. In ihrer Kindheit, erinnert die mittlerweile 16-Jährige, erzählte ihr die Mutter alle möglichen fantastischen Geschichten und Visionen, zu denen auch die Ahnung von etwas Unheimlichem jenseits der Hügel gehörte: „Ich baute mein Weltbild um ein Haus, um die Wiesen und Felder, die darumlagen, und um ein Neunundsechzig-Seelen-Dorf, plus einundfünfzig Kühe. Beweise, die ihre Geschichten widerlegten, gab es für mich nicht.“

Schwebezustand zwischen Gemütlichkeit und Klaustrophobie

Mit viel Sinn für Details und Timing erschafft Menge eine in sich geschlossene Welt ohne konstitutives Außen, in die hinein man ihr gern folgt, auch wenn Wie und Warum des Settings im Dunkeln bleiben. Vielleicht ist der Herbst auch einfach die perfekte Jahreszeit für den seltsamen Schwebezustand zwischen Gemütlichkeit und Klaustrophobie, den ihr gekonntes Vexierspiel zwischen Bullerbü-Idylle und Endzeit-Horror hervorruft.

Nachdem Paulis Mutter und auch die meisten anderen Bewohner das Dorf verlassen haben, „als wären sie alle einer unsichtbaren Kraft gefolgt“, bleiben Pauli und ihre zwei Jahre jüngere Adoptivschwester Karine allein zurück. Obwohl es kein warmes Wasser mehr gibt und die Vorräte allmählich zur Neige gehen, halten sie penibel an den alten Strukturen fest. Warum suchen sie nicht das Weite? Wer realistisches Erzählen gewohnt ist, mag ihre diffusen Ängste vor dem Unbekannten irritierend finden – innerhalb der magischen, fast traumartigen Logik des Romans jedoch wirken sie konsequent. Nicht zuletzt beschwören sie ein kindliches Bedürfnis nach Routinen herauf, nach einer Zeit, in der Märchen stets im selben Wortlaut erzählt werden mussten, um die Welt im Gleichgewicht zu halten.

Die Männer verlassen das Dorf, und die Frauen werden verrückt

Immer wieder sehnt Pauli den quasi mythischen Zustand der Ur-Triade herbei, bevor der Vater die Familie verließ und Karine zur Familie stieß. „Die Grillen sind lauter gewesen als heute, die Bäume haben ausgelassener getanzt und von den Wiesen kam ein Duft, den ich so nie wieder gerochen habe“, meint sie sich zu erinnern, „selbst die Vögel flogen und landeten anders“. Ein Fluch lastet auf der weiblichen Seite ihrer Familie, fürchtet Pauli, von dem auch sie betroffen ist: Die Männer verlassen das Dorf, und die Frauen werden verrückt. Ist die Mutter manisch-depressiv? Pauli das traumatisierte Kind einer zerbrochenen Familie? Und was hat es auf sich mit der latent mitschwingenden Gender-Thematik, den wie durch einen Bannzauber an ihren Geburtsort gefesselten Frauen? An Assoziationsreichtum mangelt es „Warten auf Schnee“ nicht; doch anstatt ein Deutungsmuster auszuformulieren, streut Menge mögliche Erklärungen aus wie eine Spur aus Brotkrumen – aufsammeln muss die Leserin sie selbst.

Zunehmend verwirrt sich das Zeitgefühl der Ich-Erzählerin

Schade nur, dass Menge anscheinend ihrem subtilen Psychogramm nicht ganz vertraut. Um den Roman nicht auf der Stelle treten zu lassen, strapaziert sie an einigen Stellen die Horrorelemente über: Mumifizierte Vögel liegen in den leeren Häusern, in denen sich die Mädchen Holzvorräte erhoffen; aus allen Ecken und Winkeln dringt „ein Schnaufen, ein Grunzen“, das jedoch nie aufgeklärt wird. Dann will sich auch noch ein Wolf Zugang zu ihrem letzten Zufluchtsort verschaffen. Etwas viel Symbolik – allzu deutlich knirscht hier die Maschinerie hinter den Geisterbahn-Attrappen. Spannender sind da die Kippmomente der Wahrnehmung, die sich gegen Ende verdichten: Zunehmend verwirrt sich das Zeitgefühl der Ich-Erzählerin; selbst ihre eigene Existenz scheint plötzlich ungewiss. Ließe sich „Warten auf Schnee“ entschlüsseln wie ein David-Lynch-Film, wenn man die subtil ausgestreuten Hinweise genauer beachtete? Unter diesem Gesichtspunkt könnte es sich lohnen, den Roman ein zweites Mal zu lesen.

Karoline Menge: Warten auf Schnee. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2018. 200 Seiten, 20 €.

Anja Kümmel

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