zum Hauptinhalt
Die 1992 in Gotha geborene Miku Sophie Kühmel wandelt auf den Spuren von Goethes „Wahlverwandtschaften“.

© Andreas Labes/Verlag

Romandebüt "Kintsugi": Liebe ist ein erschöpftes Konzept

Miku Sophie Kühmel ist mit ihrem Romandebüt „Kintsugi“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet.

Die moderne Liebe entwickelt bekanntlich mehr Fliehkräfte als Bindemittel. Seit Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Flauberts „Madame Bovary“ herrscht in der Romanliteratur Einigkeit, dass die symbiotische Verbundenheit der Liebenden in der Alltagsempirie unhaltbar ist. In Zeiten der Individualisierung werden nun aber die Treueschwüre und mit ihr die Monogamie immer instabiler. Resignative Seufzer zum „zerstörerischen Charakter der Liebe“ findet man daher auch in Miku Sophie Kühmels Romandebüt: „Widerliche Vorstellung“, sagt hier etwa die junge Pega, „dieses Kinderkriegen. Das Gegenteil von dem, was ich will: einfach Freiheit und Liebe.“

Die verblassten Ideale von Freiheit und Selbstverwirklichung, obwohl längst von Ernüchterung angenagt, sind zugleich die lebensweltlichen Imperative der vier Protagonisten dieses Romans, die sich hier in einem Ferienhaus in der Uckermark treffen. Vier Akteure aus der Berliner Boheme wollen sich in einem idyllischen Refugium am See ihrer Liebe und Freundschaft vergewissern und stolpern umgehend in die von Goethe beschriebene Affekte-Dynamik, „wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden“.

Charismatiker und Egomanen

Max, der Archäologie-Professor, und Reik, der so charismatische wie egomane Künstler, haben sich mit ihrem Uckermark-Häuschen viele Jahre über die Asymmetrie ihrer Beziehung hinweggetröstet. An einem Wochenende im März soll nun im engsten Freundeskreis die lange Haltbarkeitsdauer ihrer Liebe gefeiert werden. Der Gelegenheitspianist Tonio und seine schöne Tochter Pega haben mit Max und Reik über viele Jahre eine Patchworkfamilie gebildet, in der sich die drei Männer als Erziehungsbeauftragte von Pega abwechselten. Was nun als stille Feier der zwanzigjährigen „Fast-Ehe“ des schwulen Paars gedacht ist, entwickelt binnen weniger Stunden eine starke Verfallsdynamik. Der Uckermark-Ausflug endet schließlich mit der Trennung des Paars – und mit einer vergeblichen Liebeswerbung Pegas.

„Kintsugi“, dieser kunstvoll aus den Innenperspektiven der vier Figuren erzählte Roman, erzählt eine Verfallsgeschichte der Liebe. Als symbolschweres Zeichen für die porösen Liebesverhältnisse fungiert im Roman das gleich zweifache Zerbrechen einer Teeschale. Die Reparaturversuche von Max verweisen hier auf die traditionelle japanische Kunst des „Kintsugi“, die Fertigkeit, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Im Roman-Finale markiert dann das Abwerfen der Beziehungsillusionen die Möglichkeit eines neuen Aufbruchs. Wobei offen bleibt, ob die Kursänderung die Figuren nicht noch tiefer in narzisstische Lebensstrategien hineinführt.

Zertrümmerung der kleinbürgerlichen Familie

Dass die 1992 geborene Miku Sophie Kühmel mit ihrem Debüt nicht nur auf die diesjährige Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangte, sondern auch mit dem Jürgen-Ponto-Preis ausgezeichnet wurde, hat viel mit der Kunstfertigkeit zu tun, mit der die Autorin krisenanfällige Aggregatzustände der Liebe darzustellen vermag. Da wird uns eine junge Frau vorgeführt, die ihre Sexpraktiken von Internetvideos lernen will. Da erleben wir den ewigen Gelegenheitsjobber Tonio, der mit Anfang vierzig seine Identität an sein Dasein als alleinerziehender Vater bindet und in einer Art Wiederholungszwang noch einmal mit einer jungen Frau im Alter seiner Tochter ein Kind zeugt. Als der erfolgreichste Liebeskünstler im so harmonisch anmutenden Beziehungsviereck agiert Reik, dessen selbstbewusster Hedonismus ihm zur großen Karriere verhilft – letztlich auf Kosten seines Partners.

Kühmels beträchtliches Erzählvermögen zeigt sich in den Passagen, in denen sie die Vorgeschichte dieser so selbstbezogenen Vertreter der Berliner Boheme ausleuchtet. Max, Reik und Tonio schleppen ein gemeinsames familiäres Defizit mit sich. Alle drei sind ohne Väter aufgewachsen, mit Müttern, die sich in promiskuitiven Kontexten ihrem Hedonismus hingaben oder in Alkohol flüchteten. Alle drei sind sozialisiert in libertären Verhältnissen mit wenig Verbindlichkeit. „Kintsugi“ zeigt eine fragile Liebesordnung, die auf die Zertrümmerung der kleinbürgerlichen Familie folgte – die Liebe als erschöpftes Konzept.

Störend an Miku Sophie Kühmels beeindruckendem Romandebüt sind allerdings einige stilistische Unbeholfenheiten, die ein aufmerksames Lektorat hätte minimieren können. So wird in diesem Roman entschieden zu viel „gegrinst“, als verfügten die Figuren über nur eine einzige mimische Ausdrucksqualität. „Sein Grinsen ist schelmisch wie eh und je“: Über ein Dutzend Mal werden solche klischeeanfälligen Sentenzen variiert, bis hin zum „diabolischen Grinsen“. Wer über solche Schwächen hinwegzusehen vermag, wird an Miku Sophie Kühmels Darstellung erschöpfter Liebeskonzepte viel Erkenntnisfreude haben.
Miku Sophie Kühmel: Kintsugi. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 304 Seiten, 21 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false