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Meine Zeit nach dem Mauerfall. Christa Wolf, 81, fiktionalisiert und reflektiert die Wochen und Monate nach ’89.

© Ullstein /Andreel

Romankritik: Exisitiert dieses Land?

Zwei Gesellschaftssysteme hat sie enden sehen. Mit dem Gefühl, ein drittes könnte folgen, ist Christa Wolf in der Finanzkrise nicht allein. Eine Kritik ihres neuen autobiografischen Romans „Stadt der Engel“.

Wie wird man die beste Schriftstellerin der Welt? Für Doktor Kim ist das einfach: Sie solle regelmäßig meditieren, rät der sympathische Arzt seiner vor ihm liegenden, von Hüft- und anderen Schmerzen geplagten ostdeutschen Patientin. Und, während er in seiner Praxis in Los Angeles ihren Körper mit Nadeln spickt: „Ich solle nicht erschrecken vor dem, was ich da sehen würde, und mich nicht scheuen, das auszudrücken.“

So erfrischend selbstironisch wie in „Stadt der Engel“ war Christa Wolf wohl noch nie. Gleich bei der Ankunft in den USA erregt ihre namenlose Erzählfigur, die einmal mehr der Autorin zum Verwechseln ähnlich sieht, mit ihrem trotzig vorgelegten blauen DDR-Pass das Aufsehen des Beamten: „Are you sure this country does exist?“ Eine im Herbst 1992 allzu berechtigte Frage. Und die für Neuankömmlinge im Hotelzimmer bereitliegende „First day survival information“ enthält zwar viel Nützliches – nur leider keine Verhaltensregeln für den Fall persönlicher Erdbeben.

Ein solches hat die Ich-Erzählerin gerade hinter sich – und ein weiteres vor sich, wie sich bald zeigt. Die hier auf Einladung des Getty Center ein mehrmonatiges Stipendium antritt, braucht nichts nötiger als Abstand. Hinter der Protagonistin liegen: das erschütternde Erlebnis einer gewaltfreien „Volkserhebung“ (keiner „Wende“, wie sie betont, da das Wort den wahren Charakter der Ereignisse verschleiere). Die zum Greifen nahe Hoffnung, die Träume von einer besseren sozialistischen Gesellschaft könnten doch noch Wirklichkeit werden. Das Glück der größtmöglichen Nähe zwischen den Intellektuellen und dem von seinem eigenen Mut berauschten Volk. Schließlich der Schock beim Anblick trunkener Menschen mit vollen Tüten und Taschen nach dem Mauerfall: „Dies also war des Pudels Kern, aber was hatte ich denn gedacht.“ Und, nicht zu vergessen: die umgehende Entsorgung der bislang gefeierten Autorin durch die nun westdeutsch bestimmte Kritik.

„Stadt der Engel“, der lang erwartete neue Roman der 81-jährigen Ost-Berliner Autorin, ist vieles: ein Buch der Erinnerung und des Abschieds. Eine waghalsige, in zehnjähriger Schreibarbeit entstandene, atemberaubende Selbstbefragung, ja Lebensbeichte. So ungeschützt präsentierte sich Christa Wolf noch nie: „Jede Zeile, die ich jetzt noch schreibe, wird gegen mich verwendet werden.“ Formal ist das Buch eine Autobiografie in Romanform, die Fortsetzung von „Kindheitsmuster“ von 1976, in der die Autorin erneut der Frage nachgeht: Wie sind wir so geworden, wie wir sind?

Im aktuellen „Spiegel“ wehrt sie sich im Gespräch zunächst beharrlich dagegen, sich kritisch über die DDR äußern zu sollen. Begriffe wie Unrechtsstaat oder Diktatur verdeckten „alle Differenzierungen, an denen mir so liegt“. Gleichwohl spricht sie darüber, wie ihr schon Mitte der sechziger Jahre klar wurde, „dass sich die DDR nicht in die Richtung entwickeln würde, wie viele von uns gedacht und gehofft hatten“ und dass die Widersprüche unlösbar wurden. So habe sie an dem Land „die Utopie zu Anfang geliebt“ – und die Menschen, die sich für sie verwendeten und die enttäuscht wurden.

Zugrunde liegen ihrem neuen Buch offenbar die eigenen Tagesprotokolle aus den Monaten nach dem Mauerfall bis zum Frühjahr ’93, angereichert mit fiktiven, teils fantastischen Elementen, etwa dem dunkelhäutigen Engel Angelina, der die Protagonistin zurück ins Leben führt. Doch wäre dies kein Roman von Christa Wolf, enthielte er keine die Chronologie durchkreuzende Tiefenschicht. Dass aus dem Tagebuch ein Erzählgewebe wird, in dem sich die Zeiten durchdringen, dafür sorgen Wolfs Erinnerungen an ihr Leben in der NS-Zeit und vor allem in der DDR.

Dann ist da noch eine Jahre später am Schreibtisch sitzende, zwischen erster und zweiter Person wechselnde Erzählerin in Endzeitstimmung, die immer labyrinthischere Satzkonstruktionen spinnt. Von der USA-Stipendiatin durch die „Epochenscheide“ von 9/11 getrennt, erscheint ihr dieses frühere Ich als „noch immer ein wenig naiv“. Zwei Gesellschaftssysteme hat sie schon enden sehen. Mit dem Gefühl, ein drittes könnte folgen, ist sie zwei Jahre nach dem Lehman-Bankrott wohl nicht allein. Gegen Ende legt sie ein überraschendes Bekenntnis ab, beinah eine Absage an alle Utopien: „Da wurde mir bewusst, erinnere ich mich, dass ich gerne in meiner Zeit lebte und mir keine andere Zeit für mein Leben wünschen konnte. Trotz allem? Trotz allem.“

Die Stipendiatin aber, sie gibt sich ja alle Mühe, Distanz zu finden: freundet sich mit anderen Stipendiaten an. Besucht Ausstellungen und Museen. Berauscht sich an dem „unwirklichen Licht“. Lässt sich vor dem Fernseher von der „reifen Menschlichkeit“ der Star-Trek-Crew trösten. Beobachtet die homeless people. Beschäftigt sich mit den Schicksalen der einst aus Nazi-Deutschland hierher geflohenen Exilanten, darunter das einer mysteriösen L., deren Briefe ihr eine verstorbene Freundin vererbte. Liest das Buch einer buddhistischen Nonne, die empfiehlt, einfach loszulassen und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Trifft kalifornische Linksintellektuelle, Holocaust-Überlebende und Vertreter der second generation.

Doch mit wem sie auch spricht, stets wird sie nach Deutschland gefragt. Die Bilder brennender Asylantenheime bestimmen die US-Nachrichten. Das Bekenntnis der nicht weniger ratlosen Autorin, trotzdem in dieses Land zurückkehren zu wollen, stößt auf Unverständnis. Wenig später heißt es schon: Was ist mit Christa Wolf? Im Januar ’93, auf dem Höhepunkt der Stasi-Hysterie, wird ihre „Täterakte“ bekannt, eine dünne Mappe, die wenige harmlose Treffen in den Jahren 1959 dokumentiert, an die die Autorin keine Erinnerung mehr hatte. Die beiden Buchstaben IM „schleuderten dich unvorbereitet in eine andere Kategorie von Menschen“.

Während das Faxgerät die deutsche Skandallust in die USA transportiert und sich die Autorin vor Scham kaum noch aus ihrem Hotelzimmer wagt, beginnt sie sich erstmals, jener entscheidenden Frage zu stellen, die sie an die Grenzen ihrer Lebenskraft führen wird. „Wie konnte ich das vergessen?“ Ausgerechnet sie: „Es geht um Gedächtnis, es geht um Erinnerung: mein Thema seit langem, verstehst du. Und das hatte ich vergessen können.“

Nun gilt anders als in der Politik in der Literatur die Regel: je dünnhäutiger, desto besser. Doch ganz ohne Schutz geht es auch bei Christa Wolf nicht. Freuds „Mantel“, das symbolische Geschenk eines Freundes, ermöglicht das letztlich banale Eingeständnis: Verdrängung. Was die schmerzvolle Selbstanalyse in immer neuen Erinnerungsbruchstücken zutage fördert, deckt sich mit aus Interviews bereits bekannten Selbsterklärungen Christa Wolfs: Autoritätsgläubigkeit, Schuldgefühle, ein dominierendes Über- Ich, um nur das Wichtigste zu nennen. Dass in der Gegenwart der Versuch unternommen wird, die „Explosionen in den Magistralen des Kapitals“, also die Finanzkrise, mit einer angeblich genetisch verankerten menschlichen Gier zu erklären, kommentiert die Erzählerin mit Sarkasmus. Da drängt sich die Frage auf, ob es nicht eine ähnlich unzulässige Vereinfachung darstellt, eine komplexe Lebensgeschichte voller Konflikte auf psychoanalytische Schlagworte zu reduzieren.

Neu sind dagegen einige bislang unbekannte, ihr heute besonders peinvolle biografische Episoden. Etwa ihre Verhaftung als illegale Wahlhelferin in West-Berlin 1954, die eine hoffnungslos vernagelte, stalintreue, in ihrer Aggressivität gegen die Polizeiorgane des Klassenfeindes erschreckende Junggenossin zeigt. „Was bin ich bloß damals für eine dumme Kuh gewesen“, lautet das entwaffnende Eingeständnis. So liegt denn der Wert dieser Selbstbefragung mehr noch als in seinen Ergebnissen in ihrer heute beispiellos gewordenen ethisch-ästhetischen Radikalität. Doktor Kim wäre stolz auf seine Patientin.

Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 Seiten, 24,80 €.

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