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Kultur: Romantik des toten Sees

Im Brockhaus Jahrgang 88 wird der AralSee noch als salzhaltiger und fischreicher See in der Südsowjetunion von 64500 qukm Größe geführt. Politisch wird er heute von der kasachisch-usbekischen Grenze geteilt.

Im Brockhaus Jahrgang 88 wird der AralSee noch als salzhaltiger und fischreicher See in der Südsowjetunion von 64500 qukm Größe geführt. Politisch wird er heute von der kasachisch-usbekischen Grenze geteilt. Ökologisch ist er durch Raubbau zu einer Pfütze in Salzwüste verkümmert, in der gestrandete Schiffe vor sich hin rosten und von den Anwohnern zur Schrottverwertung zerlegt werden. In der verödeten Fischfabrik kümmern ein paar Wannen mit Restfischen.Viel ist hier nicht zu tun, zu holen und zu hoffen. So kommt es, daß Orazbaj, ein Mann besten Alters, der sein Realsoz-Büros mit US-Ikonen und Pin-Ups an den Wänden aufgeschmückt hat, seine Tage mit Fischfüttern verbringt anstatt zu heiraten. So kommt es auch, daß Orazbaj eines Tages abhaut, plötzlich und ohne Abschied.Orazbaj landet nicht im gelobten Land sondern in Rotterdam, doch er hat Glück. Denn der blinde Passagier gerät erst an einen Seemann, der die Immigrationsgesetze mißachtet, dann läuft er auf dem Pier noch dessen Ehefrau in die Arme, die den Flüchtling auf dem Balkon ihrer Neubauwohnung einquartiert und erwartungsgemäß bald ihr Matrosengattinenleben durch eine Affäre mit dem Fremden bereichert.Irgendwie geht das gut, irgendwie nicht. Natürlich kommt Eifersucht ins Spiel, wenn auch weniger dramatisch als zu erwarten. Denn der Seemann ist auch in dieser Hinsicht ein toleranter Mensch. Und Söhnlein findet sich ohne Fragen mit dem neuen Papa ab.Als Utopie ist solche Idylle sympathisch. Glauben mag man sie nicht. Regisseur und Mitautor Ben van Lieshout versucht, einen Gegenwartsstoff als Märchen zu erzählen. Er spielt mit Kontrasten, spart Übergänge, auch die Reise, aus. Traditionelles Dorfleben trifft unvermittelt auf holländische Einheits-Sosse. Der Steppenmensch in der Großstadt.Der Kontrast ist gewollt und etwas dick aufgetragen. Doch er lehrt auch etwas über das enge Verhältnis von filmischem Objekt und Form. Denn ästhetisch fällt dieser Film auseinander. In eindrückliche Szenerien, die allesamt aus dem kargen Karakalpakstan kommen, und nichtssagende Bilder aus einem Fernsehspielholland, das aus Möbelhauskatalogen zusammengebastelt zu sein scheint. Geradezu romantisch kommt einem da die Aral-Wüste vor. "Wo wenig wächst, da wächst die Seele", heißt es einmal.Am Ende darf der Usbeke wieder gehen, genauer, er wird zurückgeschickt. "So viel ist hier nicht anders", sagt Orazbaj, als er wieder daheim ist. Dafür fließt Wasser in den Aralsee. Es war wohl neben dem politischen auch der visionäre Aspekt dieses Films, der ihm die Sympathien diverser Preis-Jurys gewonnen hat. Ein Flüchtlingsfilm mit Hoffnung. Genau besehen vermittelt "Blinder Passagier" aber erstmal zwei Botschaften: Der Westen ist reich aber häßlich, doch es gibt auch dort nette Menschen. Und: Eigentlich lebt jeder dort am besten, wo er herkommt. Alles andere ist schöner Traum. So werden selbst Abschiebepolizisten zu Helfershelfern der Selbstfindung.

Filmbühne am Steinplatz, Hackesche Höfe, beides OmU

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