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Ich bin viele. Dylan bei einem Konzert 2004 in Kalifornien.

© REUTERS

„Rough and Rowdy Ways“: Bob Dylans neues Album wirkt wie eine Sammlung Bonus-Tracks

Irgendwo zwischen Anne Frank, Indiana Jones und den Rolling Stones: Auf „Rough and Rowdy Ways“ begibt sich Bob Dylan auf die Suche nach einer verlorenen Zeit.

An diesem Freitag erscheint das 39. Studioalbum des 79-jährigen Dichters, Musikers und Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan. Es trägt den Titel „Rough and Rowdy Ways“. Das beschreibt die Sache schon recht gut.

Harte Einschnitte, abrupte Wechsel, rätselhafte Wendungen und Missverständnisse sind die Konstanten seiner Karriere. Ein politischer Künstler wollte er nie sein, schon gar nicht ein Protestsänger. Diese Rolle hat er in den frühen sechziger Jahren schneller abgestreift als sie ihm von Fans, Kollegen und Kritikern angehängt wurde.

Das schafft nicht einmal Trump – dass Bob Dylan sich zum Tagesgeschehen äußert. In dem sehr ausführlichen Interview, das er jetzt der „New York Times“ gewährte, bleibt er wie gewohnt recht allgemein. Er spricht vom Tod. Aber er meint das Ende der Menschheit, nichts Persönliches.

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Dylan ist zum Archivar und Über-Ich des amerikanischen Musikschatzes geworden. Die Alben des letzten Jahrzehnts waren eine einzige Hommage an US-Klassiker.

Einer seiner zehn neuen, wieder selbst geschriebenen Songs heißt „Goodbye Jimmy Reed“ und erinnert an den in Vergessenheit geratenen Bluessänger. Dylan erzählt von einer reichen, diversen, tief in der Tradition des Gospel verwurzelten Kultur.

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„Rough and Rowdy Ways“ (Columbia) gleicht einer Wanderung. Ein paar Stücke lang pflegt er seinen gut eingeölten ruppigen Blues, dann wieder haucht und zwirbelt er ein Liebeslied („I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You“).

Das jüngste Alterswerk aber wird getragen von ausgedehnten Sprechgesängen, breit dahinfließenden Assoziationen, verzweigten Wegen durch die beste aller Parallelwelten: Da warten die Dichter der Beat-Generation und Romantiker aus anderen Jahrhunderten, Walt Whitman insbesondere.

Dessen Langversen entlehnt er den Titel „I Contain Multitudes“. Das alte Dylan-Lied: Ich bin’s nicht, ich bin schon wieder weg, war niemals hier. So wie in Todd Haynes’ Film „I’m Not There“, in der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler Dylan-Rollen ausprobieren und ihm und den Zeitgeistern dabei atmosphärisch nahekommen.

Reich der Schatten und Vermächtnisse

Irgendwo zwischen Anne Frank, Indiana Jones und den Rolling Stones, da soll man ihn suchen auf dem neuen Album. Es wirkt wie ein Sammlung von Bonus-Tracks. Es war einmal. Bob Dylan diffundiert mit seinen Songs in ein Reich der Schatten und Vermächtnisse.

Das bereits vor einigen Wochen vorveröffentlichte, 17-Minuten-Hauptstück „Murder Most Foul“ evoziert die Ermordung von Präsident Kennedy und die Musik der Sechziger. Bob Dylan auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, die er selbst mitprägte.

Und auch dieses ausgedehnte, sphärische, raunende Rezitativ entwickelt noch einmal einen ruhigen, umso mächtigeren Sog, wie er Dylans Epen seit „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ (1966) auszeichnet.

Doch gab es je ein Dylan-Album, das nicht irritiert, wenn nicht enttäuscht hat? So wie nur Bob Dylan seine Zuhörer enttäuschen kann?

Ein 80-Jähriger darf das

Jetzt schwärmt er hier von Key West, von Philosophen und Piraten. Klingt nach Hemingway und Humphrey-Bogart-Romantik und müffelt nostalgisch. Ein fast 80-Jähriger darf das. Alte Männer neigen oft zur Geschwätzigkeit und erklären gern in aller Ausführlichkeit die Welt, in der sie mal wichtig waren. Dylan zeigt Demut und Selbstironie, steht staunend neben sich und betrachtet seine „multitudes“.

Nun gut, wahrscheinlich wird man dieses Album nicht gar zu häufig hören. Es ist verdammt viel los draußen in der Welt, in den USA, und man hätte dann ja doch einmal ganz gern ein Wort gehört vom Schweigemeister, ein Wort zu alledem und alledem ...

Und plötzlich wird man daran erinnert, durch irgendeine Zeile, die er auf „Rough and Rowdy Ways“ raunend fallen lässt, dass er vieles längst gesagt hat.

„Hurricane“ aus dem Jahr 1975 beschreibt den Rassismus der amerikanischen Polizei und Justiz so klar und brutal, dass man im Jahr 2020 seinen Ohren nicht traut. Ein unschuldiger Mann, der Boxer Rubin Carter, wird für Jahrzehnte ins Zuchthaus gesteckt, für Morde, die ihm angehängt wurden, weil er die falsche Hautfarbe hat. Hat sich etwas geändert?

Als Präsident Barack Obama im Weißen Haus Bob Dylan die Medal of Freedom verlieh, die höchste zivile Auszeichnung der USA, war er beeindruckt von dessen schroffer Art. Und dass Dylan kaum ein Wort mit ihm wechselte: „So wollen wir ihn haben.“

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