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Sinn für das Schaurige. Erzähl-Debütant Rudolph Herzog, Sohn des Filmemachers Werner Herzog.

© David Biene/Galiani

Rudolph Herzogs „Truggestalten“: Die Geister der Berliner Historie

Originelles Plädoyer gegen Geschichtsblindheit. In dem Erzählungsband „Truggestalten“ zieht Rudolph Herzog durch ein unheimliches Berlin.

Der irritierende Augenblick, in dem die Ratio versagt und man seinen Sinnen nicht mehr trauen kann – der hat es dem literarischen Debütanten Rudolph Herzog angetan. Und so lässt er in seinem siebenteiligen Erzählungsband „Truggestalten“ dieses Überraschungsmoment bevorzugt jenen selbstbewussten Zeitgenossen angedeihen, die sich als Inkarnation des „neuen Berlins“ begreifen.

In der ersten Geschichte wird ein vornamenloser Herr Stiebel, frisch aus München zugezogen, durch ein Urberliner Hausmeister-Faktotum mit der NS-Vergangenheit seiner Wohnanlage konfrontiert, auf deren Gelände im Zweiten Weltkrieg osteuropäische Zwangsarbeiter ums Leben kamen. Nun soll das verfallene Gartenhaus, in dem die Gefangenen Flugzeugsitze fertigen mussten, dem Bagger weichen. In einer mondlosen Novembernacht hat Stiebel dort eine übernatürliche Erscheinung, für die er rationale Erklärungen bemüht: „Der Abgabetermin, die vielen Verpflichtungen hätten seinen Nerven mitgespielt.“ Kurz darauf kommt es zu einem Todesfall. Was weiß der Hobbyhistoriker Dr. Weißmüller darüber, ehemals Leiter der Stadtbibliothek? Ihm begegnen die nach außen hin forschen, doch in Wahrheit unsicheren Neuberliner in den Episoden mehrfach.

Ihr Verfasser stammt als Sohn des Filmemachers Werner Herzog selbst aus München, lebt aber seit 1999 in Berlin. Bislang trat er als Regisseur („The Heist“) und Sachbuchautor in Erscheinung. Seine Phantome der Vergangenheit stellen sich der vorherrschenden Optimierungsideologie entgegen, so auch in „Die Näherin“. Hier rächt sich erneut ein Ort an seinen neuen geschichtsblinden Bewohnern, konkret eine einstige Nervenheilanstalt der Charité, die zur Luxusresidenz umgebaut wurde. Den Konflikt austragen muss der Manager Björn. Durch die maßlosen Leistungsanforderungen seines bis nach Chile operierenden Start-up-Vorgesetzten und eine anstrengende Ehefrau ist er ohnehin von Burn-out und Existenzängsten bedroht und dadurch offenbar für Übersinnliches sensibilisiert. Auch türkische Gastarbeiterfamilien, eine amerikanische Künstlerin oder der sensible griechische Asthmatiker Dimitri, den eine wie aus der Zeit gefallene Lotte auf das Merkwürdigste bekocht, werden gegen ihren Willen zu Medien der unerlösten Geister der Berliner Historie.

Townhouses in Würfelform und anthrazitfarbene Audis

Durch die Verbindung aus sanfter Ironie und exakter Mentalitäts- und Ortskenntnis entlarvt Rudolph Herzog alle möglichen Erscheinungsformen hauptstädtischer Hybris und neoliberaler Spießigkeit: „Neben uns erschien eine schlüsselfertige Reihe Townhouses in moderner Würfelform, vor denen jeweils ein anthrazitfarbener Audi geparkt war. Jeder dieser architektonischen Missgriffe hatte sofort einen Käufer gefunden.“

Zugleich zeigt er ein Herz für die vergessenen Winkel insbesondere des alten West-Berlins, etwa wenn er eine Bierstube als „Parallelwelt für Eingeweihte“ schildert, in der neben der obligatorischen Weißen mit Schuss auch „Vierkant, Turmgeist und Mäusepisse“ kredenzt werden. In dieses Neuköllner Etablissement verschlägt es eine rheinische Karrieristin. Im Auftrag eines IT-Unternehmens, das im Bereich der biometrischen Gesichtsfelderkennung forscht, sucht sie nach einem Wiedergänger namens Plischke, einem verschwundenen Flughafenangestellten. Den unangenehmen kleinen Mann wird sie nicht mehr los, denn er bespringt sie wie ein Jockey vor der Kneipentür – nicht in sexueller Absicht, sondern um von ihr in Richtung BER getragen zu werden, vorbei an Adlershof und den Flachbauten des ehemaligen DDR-Rundfunkstudios: „Sie hatten das heruntergekommene Aussehen, das für diesen untergegangenen Staat, der sich mit Einverständnis seiner Bewohner der Verwahrlosung preisgegeben hatte, charakteristisch gewesen war.“

Die zurückhaltende sprachliche Gestalt überzeugt

Bei Plischke handelt es sich um einen „Aufhocker“, einen „koboldartigen Druckgeist“, der häufig zum Friedhof eskortiert werden will: „Der Wanderer ist wie gelähmt, leidet unter Brustangst und ist unfähig, sich umzuwenden … Manche Aufhocker lassen sich so lange tragen, bis das Opfer stirbt.“ In rasendem Schweinsgalopp klärt sich nebenbei die Frage, warum der neue Flughafen auf ewig seiner Vollendung harrt.

Ob es um die ausgebeuteten Proletarier des Gründerzeitalters geht, um die grausamen Methoden der deutschen Besatzer in Griechenland während des Zweiten Weltkriegs oder die psychologisch zersetzenden Maßnahmen der Staatssicherheit: „Truggestalten“ überzeugt durch die zurückhaltende sprachliche Gestalt. Als originelles Plädoyer gegen Geschichtsblindheit gräbt sich das Buch wegen seiner ausgefallenen Motive unwiderruflich ins Gedächtnis: Es ist eben ein echter Aufhocker.

Rudolph Herzog: Truggestalten. Erzählungen. Galiani Verlag, Berlin 2017. 256 Seiten, 20 €.

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