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Kultur: Rüdiger Safranski im Gespräch: Brauchen moderne Menschen noch Philosophie?

Der 55-jährige Philosoph und Berliner Schriftsteller wird damit für sein soeben erschienenes Buch "Nietzsche. Biografie seines Denkens" (siehe Tagesspiegel vom 19.

Der 55-jährige Philosoph und Berliner Schriftsteller wird damit für sein soeben erschienenes Buch "Nietzsche. Biografie seines Denkens" (siehe Tagesspiegel vom 19. 8.) gewürdigt. In den siebziger Jahren arbeitete er als Assistent bei den Germanisten der Freien Universität, in den achtziger Jahren war er Mitherausgeber der "Berliner Hefte". Safranski hat Bücher über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer und Heidegger geschrieben; 1997 erschien seine Betrachtung über "Das Böse oder Das Drama der Freiheit".

Worin liegt die Aktualität von Nietzsches Denken?

In der Einsicht, dass wir die Wahrheit nicht haben. Das sagt sich so leicht. Es wirklich ernst zu nehmen, können wir bei Nietzsche lernen. In den "weichen" Feldern des Wissens hat es sich herumgesprochen, dass wir aus Deutungen leben. Andererseits zeigt gerade die Karriere neuer Wissenschaften wie Gentechnik und Computerwissenschaft, dass ein robuster Wahrheitsbegriff fröhliche Urstände feiert. Ein jeder hält diese neuen Erkenntnisse für gegebene Wahrheit. Ein aktualisierter Nietzsche ist einer, der auch den "harten" Wissenschaften den Interpretationsbegriff um die Ohren haut. Es werden dort nämlich überhaupt keine neuen Wahrheiten zu Tage gefördert, sondern alles bleibt eingebettet in ein unhintergehbares Interpretieren. Wahrheit hängt von der Perspektive ab. Das hat Friedrich Nietzsche gezeigt.

Nietzsches Kritik hat die Geisteswissenschaften dekonstruiert, während die Naturwissenschaften siegen?

So scheint es. Das ist natürlich gefährlicher Unsinn. Es gibt ja diesen berühmten Aphorismus: "Gott ist tot". Dessen Pointe liegt darin, dass alle diese Botschaft altbekannt und langweilig finden - aber nur, weil sie noch gar nicht angekommen ist. Die neue Religion ist die Wissenschaftsgläubigkeit. Aber um wirklich freie Geister und eine freie Kultur zu bekommen, müssen wir auch davon Abschied nehmen. Das muss aber keinen Absturz in die Beliebigkeit bedeuten. Bei Nietzsche kann man lernen, dass dies auch eine Selbstermunterung zur Souveränität bedeutet.

Zeigt uns Nietzsche auch, wie wir bloßen Relativismus vermeiden können?

Zum einen macht er uns darauf aufmerksam, dass es Menschheit im allgemeinen gar nicht gibt. Es gibt mich. Und es gibt dich, und es gibt wir und ihr. Dazwischen stellen wir Beziehungen her, aber diese fokussieren immer wieder auf das Selbstverhältnis. Selbstverhältnis ist eine heikle Angelegenheit. Ein Tier kann nicht aus seiner Rolle fallen. Wir Menschen aber sind, wie Nietzsche sagt, die "nicht festgestellten Tiere". Das heißt: Unser Selbstverhältnis wirft uns in ein Drama hinein, denn wir können uns unterbieten. Wir können von uns abfallen, wir können mit uns verfeindet sein, wir können unter unser Niveau rutschen.

die Übermenschentheorie ...

Nietzsches Obsession war: Wie schaffen wir es, mit uns befreundet zu bleiben? Die Übermenschen-Theorie ist nichts Megalomanisches, sondern zunächst eine Art autosuggestiver Trick: Um sich vor dem Absturz zu bewahren, muss man über sich hinaus wachsen. Wenn man nur versucht, sein Niveau zu halten, rutscht man ab. Nietzsche zufolge haben wir außerdem alle ein Umformatierungsproblem, wenn wir vom "Ich" zum "Wir" wechseln und vom Kammerspiel unseres Selbstverhältnisses ins Welttheater übergehen. Und da tritt der Übermensch dann doch als eine Vision auf, die nicht nur der Sinn eines einzelnen Lebens sondern der Sinn einer ganzen Kultur sein könnte.

Eine Elitentheorie...

Ja, Kultur pyramidal gedacht: unten Basis, oben Spitze. Nietzsche hat ja diesen schönen Ausdruck der "Verzückungsspitze" - auf diese hat er munter losphilosophiert, weil er sich immer schon oben sitzen sah. 1871, zum Zeitpunkt der Pariser Commune, erhielt Nietzsche die Nachricht in sein idyllisches Basel, dass die Massen den Louvre gestürmt und zerstört hätten - eine Falschmeldung. Da hat er fast einen Nervenzusammenbruch bekommen. Man muss bei Nietzsche, will man ihn richtig verstehen, immer auch diese inneren Bilder rekonstruieren: Ihm ging es um "wesentliche Momente", um ein kulturelles Äquivalent zu dem Wenigen, was von einem individuellen Leben übrigbleibt. Wie bei einem Ertrinkenden im letzten Moment noch die Bilder zusammenschießen und ihm sein Leben rechtfertigen - so ist es auch in der ganzen Kultur. Also: Worüber wir wirklich nachdenken müssen, ist dieses heikle Problem des Umformatierens, den Übergang von der Selbsterfahrung in die Wir-Erfahrung.

Ihre eigene Antwort erinnert an die des amerikanischen Philosophen Richard Rorty: Man sollte die Bereiche des Ich und des Wir trennen und zwischen ihnen ein ironisch-distanziertes Verhältnis aufbauen. Findet man bei Nietzsche Argumente für diese Position, die für ein gedämpfteres, pragmatisches Verhalten plädiert und Politik nicht mehr zur Frage von Leben und Tod erklärt?

Also es gibt bei Nietzsche selbst Ansätze zu einer Verbindung. Einer davon ist seine Überlegung über das "Zweikammersystem der Kultur", die aus der Zeit stammt, als er begann, von Wagner Abschied zu nehmen. Fast wie ein Insektenforscher blickt er da auf seine eigenen Erhitzungen: diese Ekstase, Hingerissenheit, "Musik als das wahre Leben". Und er merkt, dass er sie selbst abkühlen kann, um eine andere Logik der Lebbarkeit zu begründen. Kunst, Religion und Philosophie sind dann die heißen Zonen, Wissenschaft die kalte. Ich gehe über ihn hinaus, wenn ich sage: Die kalte Sphäre ist auch die des Politischen.

Kann man Philosophie überhaupt von Wissenschaft und Politik trennen? Kann man als Denker tagsüber die Menschenrechte in Frage stellen, wenn man sich abends als Bürger im Ortsverein engagiert? Das klingt doch nach einem sehr theoretischen Konstrukt...

Wir handeln nie aus einem Guss. Schauen Sie: Ich habe politisch eine ganze Menge Vorbehalte gegen Nietzsche. Trotzdem setze ich mich hin und schreibe ein Buch über Nietzsche. Ich liebe Nietzsche, ich bin verzaubert, ich bin hingerissen von seinen Sätzen. Das heißt: Was kein Konstrukt ist, das ist die Tatsache, dass man etwas liebt, obwohl man es gleichzeitig auch nicht ganz billigen kann. Allerdings in einer anderen Logik. In zwei Welten zu leben, ist keine Konstruktion, sondern ein Faktum. Wir leben sogar noch in vielen anderen; wir partizipieren an verschiedenen Logiken. Nur wenn wir anfangen, die Dinge theoretisch zu beschreiben, dann neigen wir dazu, alles zusammenzubringen. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel: Es heißt immer, Religion sei überholt. Aber wer eine Kathedrale betritt, ist angerührt. Man kann das in seine sonstige intellektuelle Landschaft nicht integrieren: einerseits die "Matthäuspassion" und andererseits unser ausgenüchterter Geist. Wir lassen das nebeneinander bestehen. Ich fühle mich nicht aufgrund meiner Liebe für die "Matthäuspassion" und die Kathedrale von Chartres plötzlich gezwungen, religiös zu werden. Wir leben also auf mehreren Bühnen. Und es kommt auch da nun darauf an - das ist ja im Grunde die Aufgabe von Philosophie - zu versuchen, halbwegs so klug zu werden, wie wir es immer schon sind in unseren Erfahrungen. Eigentlich ist Philosophie nichts anderes, als das Denken auf die Höhe dessen zu bringen, was wir schon erfahren und tun. In der Regel ist das Denken immer dümmer. Und Philosophie ist die Vermeidung, dümmer zu sein, als man eigentlich ist.

Dieser Lesart hätte Nietzsche sicher in manchem widersprochen. In seiner späteren Phase versuchte er, gegen solche Differenzierungen eine Einheit der Perspektiven zu begründen. Der "Wille zur Macht" ist so ein Konzept. Ihrer Liebe zur "Matthäuspassion" hätte er vielleicht vorgehalten, dass Sie ein typischer "Decadent" seien: ein bisschen Religion, aber nicht mehr so richtig ...

Ja, das hätte er wohl. Nur zerbrach er ja auch an dem Versuch eines Gesamtsystems. Gerade wenn man sich Nietzsches Phasen der Totalisierung in Erinnerung ruft, darf man auch nicht übersehen, dass er zur gleichen Zeit schrieb: "Ich wünsche mir einen Leser, der den ironischen Widerstand gegen mich nicht verliert; der vor mir steht, wie vor einem wunderlichen Gewächs." Geist ist vielleicht überhaupt nur die Fähigkeit, noch weiter zu spielen, auch wenn es ganz ernst ist. Diese Aufforderung, das spielerische Verhältnis nicht zu verlieren, ist wichtig. In der Sprache der Automobilisten: Nietzsche wollte verhindern, dass es einen Kolbenfresser gibt. Das Spielen ermöglicht es, dass die Dinge in Bewegung bleiben. Und für Nietzsche war einer dieser Namen für dieses Spiel, das nötig ist, damit das Sein sein kann, die Ironie. Es gibt aber - das gehört zum Drama bei Nietzsche - auch Phasen, in denen er die Ironie verloren hat, und sozusagen in seine Bilder gestürzt ist.

Hätte sich denn der Nietzsche dieses Spiels, dieser Ironie in der heutigen Zeit wohlgefühlt? Würde er diese Ironie in der Gegenwart wiederfinden, oder ist sein Spiel ein ganz anderes als das ironische Spiel der Popkultur?

Nietzsche wollte das Spiel. Aber er wollte auch, dass es ernst ist. Heute ginge es ihm wahrscheinlich ein bisschen zu unernst zu. Das liegt auch daran, dass er eine Sehnsucht nach der Tragödie hatte. Wenn wir heute sagen: Interpretation ist alles; verschiedene Interpretationen stoßen zusammen und versuchen, sich miteinander zu arrangieren, dann hätte Nietzsche vielleicht eingewandt: Schön und gut, aber Kreon hat seine Interpretation und Antigone die ihre, und es wäre nicht zu wünschen, dass die beiden zusammensitzen, miteinander diskutieren und das Problem so aus der Welt schaffen.

Wird Nietzsche im 21. Jahrhundert ähnlich wirksam sein, wie er es im vergangenen Jahrhundert war?

Nietzsche war ein begnadeter Künstler. Auch wenn sich der kognitive Gehalt vielleicht verbraucht hat, werden zukünftige Generationen ihn als einen Text über die menschliche Komödie lesen. So wird er überleben.

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