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Blick in den Raum der Ausstellung von 1915, in dem die Werke Malewitsch' hingen. Mit dem "Schwarzen Quadrat" rechts oben in der Ecke.

© Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Moskau

Russische Kunst in der Fondation Beyeler: Avantgarde im Quadrat

Die legendäre Petrograder Ausstellung "0,10" von 1915 versammelte die damals neue russische Kunst. Jetzt hat die Schweizer Fondation Beyeler rekonstruiert, welche Arbeiten damals gezeigt wurden.

Auch das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch altert. Das Gemälde zeigt ein feines Krakelee, jenes unregelmäßige Liniengeflecht, das durch Temperaturspannungen zwischen Bildträger und Ölfarbe entsteht und tiefer liegende Farbschicht durch die nun rissige Oberfläche durchscheinen lässt. Jene ist weiß. Sollte Malewitsch eine zeitlose Kunst, eine Kunst für alle Ewigkeit erfunden haben wollen, so hat ihn zumindest deren physische Ausformung im Stich gelassen.

Die Frage wird erneut heftig diskutiert, was es mit dem Suprematismus auf sich hat, wie der 1878 geborene Malewitsch die Kunstrichtung benannt hat, die „höchste“, die, begünstigt durch die Revolution der Bolschewiki, ein paar Jahre lang eine entschlossene Anhängerschaft zu vereinen wusste. Anlass ist die Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, die sich – ihrem Titel gemäß – auf die „Suche nach 0,10. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ begeben hat. „0,10“ war rätselhaft die Ausstellung in Petrograd – heute wieder St. Petersburg – überschrieben, die Ende 1915 in drei Zimmern eines Adelspalais eröffnet wurde und gerade einmal einen Monat lang zu sehen war, und das im dunklen und kalten Winter der damaligen russischen Hauptstadt.

Die Ausstellung versammelte 154 Werke von 14 Künstlern, abweichend von ihrem Titel auch skulpturale Arbeiten, und zwar von Wladimir Tatlin, die ihrerseits als Begründungsarbeiten des Konstruktivismus gelten. Der sollte ein weit größeres Spektrum abdecken – und vor allem nicht nur in Russland selbst –, als es der eher sektenhafte Suprematismus je vermochte.

An der Bedeutung der Ausstellung „0,10“ gibt es keinen Zweifel. Sie zeigte wie in einem Brennglas die russische Avantgarde – wenn auch die nicht vollständig –, die sich in den Jahren zuvor herausgebildet hatte und bald, durch Krieg und Revolution bedingt, wieder auseinanderfallen sollte. Was aber 1915 genau gezeigt wurde, war bislang nicht bekannt; man legte damals auf umfangreiche Kataloge wie heutzutage keinen Wert, und zu „0,10“ gab es lediglich ein unbebildertes Faltblatt. In Feinarbeit ist es gelungen, eine große Zahl der Werke zumindest annähernd zu identifizieren; überdauert hat ohnehin nur rund ein Drittel. Doch neben dem „Was“ steht das „Wie“, denn die wenigen überlieferten Fotografien der Ausstellung, insbesondere eine, immer wieder reproduzierte, zeigen ein ganz besonderes Arrangement: die notorische „Petersburger Hängung“, also das Dicht-an-dicht der die ganze Wand füllenden Gemälde, und die über Eck aufgespannten „Konterreliefs“ von Tatlin.

Heroen wie Malewitsch und Tatlin sind in eigenen Räumen zu sehen

In die Rekonstruktion bei Beyeler ist erkennbar viel Forschungsarbeit geflossen, überwiegend von dem New Yorker Matthew Drutt, der bereits vor etlichen Jahren die Malewitsch-Zeichnungsausstellung in der inzwischen aufgelösten Deutschen Guggenheim Berlin erarbeitet hatte. Der dickleibige Katalog verzeichnet alles, was an schriftlichem Material auffindbar war, Plakate, Manifeste und höchst aufschlussreiche Zeitungsartikel. Die Ausstellung selbst allerdings ist, hält man sich an besagte Fotografien, denkbar weit weg von der damaligen Ästhetik – sie reiht ihre aus noch den entferntesten Provinzmuseen zusammengetragenen rund 80, vielfach nicht originalen, sondern jenen von 1915 vergleichbaren Stücke hübsch linear und mit dem heutzutage gängigen Sichtabstand an den Wänden auf, getrennt zudem nach Künstlern, sodass den Heroen wie Malewitsch und Tatlin jeweils eigenen Räume zukommen.

Warum werden schon lange bekannte Künstler gesondert vorgestellt? Das ist, bei aller Bewunderung für den Spürsinn von Kurator und russischen Mitarbeitern, denn doch enttäuschend. Denn wenn die Werke im Einzelfall auch bislang unbekannt sein mögen, das jeweilige Künstlerœuvre ist es nicht. Und schon gar nicht dasjenige Malewitschs, dem erst im vergangenen Jahr eine umfangreiche Retrospektive in drei großen europäischen Museen ausgerichtet wurde. Ironischerweise waren vor einiger Zeit ausgerechnet in Basel, im Tinguely-Museum, große Retrospektiven zu den „0,10“-Protagonisten Iwan Puni sowie Tatlin zu sehen. Es konnte in Basel- Riehen also nicht mehr darum gehen, mit dem jeweiligen Künstler bekannt zu machen, sondern allein darum, die Eigenart von „0,10“ vorzuführen.

Das "Schwarze Quadrat" hatte in russischen Haushalten Ikonenstatus

Was Malewitsch angeht, hatte man bei besagter Retrospektive 2014 den Versuch einer adäquaten Rekonstruktion der damaligen Hängung sogar unternommen! Und eben allein aus dieser erschließt sich die Bedeutung des „Schwarzen Quadrats“ – das bei Beyeler in einer späteren Version zu sehen ist, weil das fragile Original unausleihbar ist, aber gleichwohl die Aura des Erstlings besitzt. Das schwarz auf weiß gemalte Bild nahm die Position der Ikone im russischen Haus ein, hoch in einer Raumecke, etwas, womit man sich in westlicher Sicht nicht anfreunden mochte. Tatsächlich ist die Nähe Malewitschs zur Ikonenmalerei inzwischen unbestritten.

Ikonen der Revolution hat er gleichwohl nicht gemalt, diese im Westen früher gern gemachte Analogie ist erledigt und stellt sich hier auch nicht, da es um die Situation der Kunst von 1915 geht. Nicht die Revolution hat die Kunst der Avantgarde hervorgebracht, sondern die Avantgarde hat sich der Revolution angedient, bis sie – recht bald – als für die Massen untauglich ins Abseits gedrängt wurde. Was die Beyeler-Ausstellung gegenüber den zahlreichen Ausstellungen zur russischen Moderne auszeichnet, die es dank der Öffnung der russischen Museumsdepots seit einem Vierteljahrhundert allerorten gibt, ist, dass sie dieses Jahr 1915 bereits als den Höhepunkt der russischen Avantgarde kenntlich macht.

Es wimmelt nur so von kubistischen und kubofuturistischen Arbeiten

Sie macht kenntlich, welch eine bedeutende Rolle dabei die Malerinnen spielten. Ljubow Popowa, Nadeschda Udalzowa und Olga Rosanowa, um nur die bekanntesten der sieben Teilnehmerinnen – paritätisch! – zu nennen, brachten die farbfreudigsten Arbeiten der Ausstellung mit. Anders als der prinzipienfeste Malewitsch kümmerten sie sich um die Einhaltung theoretischer Postulate herzlich wenig. Überhaupt war es bloße Behauptung, mit „0,10“ werde eine Absage an die westlichen Strömungen von Kubismus und Futurismus – den deutschen Expressionismus hatten die Paris-fixierten russischen Künstler nicht im Blick – formuliert. Es wimmelt nur so von kubistischen und kubofuturistischen Arbeiten, wie in Basel in aller Frische zu erleben ist. Dass mit „0,10“ die gegenstandslose Kunst beginnt, ist gleichfalls Legende; da haben Frantisek Kupka in Paris und vor allem Wassily Kandinsky in München kurz zuvor Bahnbrechendes geleistet. Und schon gar nicht arbeiteten alle Teilnehmer der Petrograder Ausstellung ungegenständlich.

Um die sieben Räume und damit mehr als das Original umfassende Rekonstruktion von „0,10“ herum hat die Fondation Beyeler noch eine Ausstellung unter dem Titel „Black Sun“ arrangiert, die, aufbauend auf den eigenen, zweifellos großartigen Beständen, die Abstraktion seit dem Zweiten Weltkrieg als Folge von 1915 zeigen soll. Auch das hätte nicht sein müssen, oder besser, hätte zu getrenntem Zeitpunkt stattfinden können. Warum vom eigentlichen Ereignis ablenken? Und dieses Ereignis ist doch, mit Worten von 1915: „Im reinen, kalten Raum fliegen sie, die reinen Formen, geworfen in hastigem Lauf, zusammenstoßend oder voneinander abprallend ...“ Das schrieb Nadeschda Udalzowa zwar über Malewitschs bereits voll ausgebildeten Suprematismus, aber man kann es cum grano salis auf die ganze, in Formen und Farben wirbelnde Baseler Ausstellung beziehen. Jede einzelne Arbeit mag gealtert sein; als Ganzes aber ist „0,10“ so alterslos wie je zuvor. Diese Hoffnung auf Dauer, die jeden Künstler beflügelt, hat sich im Falle der russischen Avantgarde aufs Schönste erfüllt.

Riehen bei Basel, Fondation Beyeler, bis 10. Januar. Katalog 68 Franken. www.fondationbeyeler.ch

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