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Stummes Leiden. Die Heldin aus „Die Sanfte“ (Vasilina Makovtseva) auf ihrer Odyssee durch eine korrupte Bürokratie.

© Grandfilm

Russischer Film "Die Sanfte" im Kino: Eine Nation von Sinnen

Sergei Loznitsa schickt in „Die Sanfte“ seine namenlose Heldin durch das Pandämonium des heutigen Russlands.

Von Andreas Busche

Das Gesicht von Vasilina Makovtseva brennt sich in die Erinnerung ein. Wie ein latentes Bild ist ihre ausdruckslose Maske noch präsent, als „Die Sanfte“, der dritte Spielfilm des russischen Regisseurs Sergei Loznitsa, längst vorbei ist. Was das Gesicht der jungen Frau erzählt, das der rumänische Kameramann Oleg Mutu in rigiden Frontaleinstellungen kadriert, ist kein Horror, keine Verzweiflung, sondern die stoische Apathie eines Menschen, der für das absurde Theater um ihn herum keinen Blick übrig hat. Im Bus sprechen ihre Mitfahrer lautstark über ein grausames Gewaltverbrechen, auf dem Amt drängeln sich die Antragssteller, mit Händen und Füßen kämpfen sie um einen Platz in der Schlange. Und auf der Polizeiwache krakeelt ein Mann im Rollstuhl einen bizarren Monolog über Kondensmilch. Eine Nation wie von Sinnen.

Loznitsas Film ist wirklich eine Tour de Force, nicht nur für seine Protagonistin, sondern gerade fürs Publikum, das zweieinhalb Stunden lang die namenlose Frau auf ihrer Odyssee durch das russische Hinterland begleitet. „Die Sanfte“ hatte im vergangenen Jahr in Cannes Premiere, neben dem Ehedrama „Loveless“ seines Landsmanns Andrei Swjaginzew. Zusammen bilden die beiden Filme ein unversöhnliches, harsches Diptychon des heutigen Russlands, dessen entlegene Provinzen irgendwie aus der Zeit gefallen scheinen. Hier tragen die Straßen noch Namen von Helden der Revolution, Relikte einer glorreichen Vergangenheit, während sich die Menschen auf dionysischen Gelagen in der Dorfkneipe die letzten Reste Wirklichkeitsbezugs wegsaufen. Die Tonspur von Loznitsas Film ist nicht weniger stressig: Alltagslärm, Geschrei und laute Streitgespräche prasseln auf die junge Frau nieder, die ihr Martyrium regungslos über sich ergehen lässt.

In seinen Spielfilmen beweist Loznitsa sardonischen Humor

Ausgangspunkt von „Die Sanfte“ ist eine Kafka-Posse, aber der Film kippt schon bald in ein visuelles Delirium, das sich der Surrealist Luis Buñuel nicht besser hätte ausdenken können. Als die Heldin ein Paket an ihren inhaftierten Mann mit dem Vermerk „unzustellbar“ zurückbekommt, macht sie sich auf den Weg in die weit entfernte Gefängnisstadt, deren Subökonomie noch von den Leidtragenden der russischen Justiz zu profitieren scheint. Eine Arbeitskollegin beneidet sie zum Abschied um die Reise, weil sie selbst keinen Mann habe, der im Gefängnis sitzt. Ein Taxifahrer meint beiläufig, dass Gefängnisse ja zum Leben dazu gehören.

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Loznitsa hat sich im europäischen Autorenkino vor allem einen Namen als akribischer und formal strenger Dokumentarist über die „Euromaidan“-Proteste von 2013 und den deutschen Gedenkstätten-Tourismus („Austerlitz“) gemacht. Aber erst seine Spielfilme, allesamt Roadmovies, die sich zu allegorischen Höllentrips durch die russische Gesellschaft steigern, bringen Loznitsas sardonischen Humor zum Vorschein. In „Mein Glück“ von 2010 – schon der Titel ist eine Farce – führt ein Job die Hauptfigur, einen Lkw-Fahrer, auf eine aberwitzige Reise durch die Vergangenheit seines Landes. Am Ende verfällt er dem Wahnsinn.

Ein Pandämonium der russischen Gesellschaft

In seinen Spielfilmen häuft Loznitsa sein dramaturgisches Material eher an, statt es wie in seinen Dokumentarfilmen zu reduzieren. Auch „Die Sanfte“ besteht aus kurzen Vignetten, aus denen er von Etappe zu Etappe skrupulös ein niederschmetterndes Gesellschaftspanorama herausarbeitet. Die Bilder von Oleg Mutu, der die Zurückhaltung seiner Meisterwerke für die rumänische Nouvelle Vague bei Loznitsa über Bord wirft, verstärken noch die Entgrenztheit des Plots: Die verlebten, aufgedunsenen, verzerrten Gesichter der Menschen in seinen Wimmelbildern ergeben ein Pandämonium der russischen Gesellschaft. Ein Menschenfreund ist Loznitsa nicht.

In diesem Chaos wirkt Vasilina Makovtseva fast wie eine Heilige: unantastbar, trotz all der Erniedrigungen, die ihr auf ihrem Weg widerfahren. Doch der Regisseur verschont auch sie nicht. Die Unerbittlichkeit, mit der Loznitsa seine über weite Strecken passive Hauptfigur traktiert, hat bisweilen etwas Übergriffiges. Doch es passt zum Modus von „Die Sanfte“, der sein Publikum nie in Frieden lassen will. Makovtsevas Schweigen ist ein stummes Requiem für Russland.

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