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Zwei Gefangene in Ketten, zwischen 1905 und 1915.

© Sergei Michailowitch Produkin-Gorski / LOC, LC-DIG-prokc-20009

Russland in Farbe: Fotopionier im Auftrag des Zaren

Von 1905 bis 1915 hat Sergei Michailowitch Prokudin-Gorski zum ersten Mal das Zarenreich in Farbe dokumentiert. Seine außergewöhnlichen Fotos sind in dem Band "Nostalgia" erschienen.

Seine Bilder zeigen eine versunkene Welt, ein Riesenreich kurz vor dramatischen historischen Veränderungen. Die großformatigen faszinierenden Farbfotos von Sergei Michailowitch Prokudin-Gorski sind ein Schatz, der das Zarenreich vor rund 100 Jahren dokumentiert.

Ins Auge fällt die Farbigkeit der Fotos von Prokudin-Gorski, die jetzt in dem aufwendigen, üppigen Bildband „Nostalgia“ im Gestalten Verlag Berlin erschienen sind. Die zum Teil schrägen Farben sind kein Produkt einer Warholschen Verfremdung, sondern sie sind der Tatsache geschuldet, dass Prokudin-Gorski als einer der ersten mit Farbfotografie in Russland experimentiert hat. Er hat ein Verfahren entwickelt, mit dem er innerhalb kürzester Zeit drei Glasplatten belichten konnte, die dann übereinander gelegt, das Farbbild ergaben. Dabei verrutscht schon mal ein Passer oder ein Mensch hat sich bei der einen Farbschicht bewegt, sodass am Ende fast surreale Störungen entstehen, die aber gerade die historische Aura dieser Fotos ausmachen.

Charakteristisch sind die farbigen Ränder der Bilder, die oft wie unfreiwillige Rahmen wirken, manche zeigen deutlich den Sprung in der Glasplatte oder das Fehlen einer ganzen Farbschicht. So entstehen aus heutiger Sicht scheinbar modische Bilder einer uns unbekannten Welt, die auch den Teppichdesigner Jan Kath dazu inspiriert haben, mit Prokudin-Gorskis Bildern eine Werbekampagne für seine aus Russland inspirierten Teppiche zu benutzen, in dem er den posierenden Bauern einfach per Photoshop einen passenden Teppich unterschob – eine fast perfekte Sinnestäuschung.

Er lehrte auch an der Technischen Hochschule in Berlin

Selbstporträt am Karolitskhali-Fluss im Kaukasus zwischen 1905 and 1915.
Selbstporträt am Karolitskhali-Fluss im Kaukasus zwischen 1905 and 1915.

© Sergei Michailowitch Prokudin-Gorski / LOC, LC-DIG-prokc-21468

Sergei Michailowtich Prokudin-Gorski wurde vor 150 Jahren in Murom geboren, seine Eltern gehörten zur Petersburger Aristokratie. Dies ermöglichte ihm ein Chemie-Studium unter Dimitri Mendelejew, dem Erfinder des Periodensystems der Elemente. Er verließ Russland 1889 und lehrte auch zwei Jahre an der Technischen Hochschule in Berlin. Hier beschäftigte er sich vor allem mit Fragen der Reproduktion von Farbbildern. Nach Reisen durch Westeuropa kehrte er, wie Estelle Blaschke im Vorwort zu dem Bildband schreibt, nach Russland zurück, um sich der Fortentwicklung der Farbfotografie zu widmen.

Er erkannte die Möglichkeiten des Mediums für Wissenschaft und Bildung und setzte sich für eine Förderung der noch weitgehend unbekannten Farbfotografie in Russland ein. Als Mitglied der „Technical Imperial Society“ hielt er entsprechende Vorträge und allmählich reifte sein Plan, das russische Reich systematisch in Farbfotos zu erfassen. Er bekam über die Fotografische Gesellschaft Petersburgs und deren Präsidenten, Großherzog Michail Alexandrovitch Romanov, einen Bruder des Zaren, schließlich Zugang zum Hof und konnte auch dort seine ersten Farbfotos projizieren, was auf Zar Nikolaus II. großen Eindruck machte.

Dieser hatte hier zum ersten Mal projizierte Farbfotos gesehen. Nach dieser beeindruckenden Präsentation war Prokudin-Gorski die Unterstützung des Zaren für sein auf Jahre angelegtes Projekt sicher. Er konnte sich die neusten Kameras aus Westeuropa kommen lassen und begann mit Hilfe eines Briefes des Transportministeriums, das ihm völlige Bewegungsfreiheit garantierte, das Riesenreich zu erkunden.

Prokudin-Gorski wurde Zeuge der beginnenden Industrialisierung

Abendessen während der Heuernte an der Wolga, 1909. Der pinkfarbene Farbkeil ist das Ergebnis einer schadhaften Glasplatte für eine Farbe. Auch an den Rändern stimmen die Passer nicht mehr genau - so entsteht der popartige Eindruck dieser über 100 Jahre alten Farbfotos.
Abendessen während der Heuernte an der Wolga, 1909. Der pinkfarbene Farbkeil ist das Ergebnis einer schadhaften Glasplatte für eine Farbe. Auch an den Rändern stimmen die Passer nicht mehr genau - so entsteht der popartige Eindruck dieser über 100 Jahre alten Farbfotos.

© Sergei Michailowitch Prokudin-Gorski / LOC, LC-DIG-prokc-21721

1909 schiffte er sich auf dem Marinski-Kanal zwischen Wolga und Newa ein. Von seiner Wolga-Reise sind großartige Landschaftsaufnahmen erhalten, Fotos wie Gemälde, ausgedehnte Flusslandschaften, in denen altmodische Signalmasten wie Vorboten einer neuen Zeit auftauchen, Kirchen mit Zwiebeltürmen, Holzhäuser und immer wieder auch Menschen, die gebannt in die Kamera schauen. Er besucht das Borodino-Museum, wo eine bedeutende Schlacht gegen Napoleon stattgefunden hatte, er zeigt eine Feuerwache, die stolz mit ihrem Gerät angetreten ist und ein Dampfschiff der Gebrüder Nobel.

Aber er wird auch Zeuge der Veränderungen, immer wieder fotografiert er Baustellen von Eisenbahnbrücken, die Bahn ist der Motor des Fortschritts zur Erschließung des Landes und er selbst hat sich in einem Eisenbahnwaggon eine Dunkelkammer eingerichtet. Am Rande taucht auch der Erste Weltkrieg auf, etwa auf Fotos mit österreichischen Kriegsgefangenen, die an der Bahnlinie nach Murmansk arbeiten. Einmal posiert er selbst mit Kosaken vor der Kamera, ein hagerer Mann mit Hut und Brille.

Faszinierend sind seine Fotos  aus dem Ural und Westsibirien, herrliche Landschaften, aber auch Gießereien und beginnende Schwerindustrie – in einer Degenscheidenfabrik ist eine Maschine der Firma Fleck und Söhne aus Berlin-Reinickendorf zu erkennen. Im Kaukasus fängt er die faszinierende Bergwelt ein, Bäuerinnen in ihren farbigen Trachten, aber auch den chinesischen Vorarbeiter auf der Teeplantage sowie russische Siedler, die sich in der Steppe ein Haus bauen.

Die exotischsten Aufnahmen stammen aus Samarkand

Ein Foto wie eine indische Miniaturmalerei: der Emir von Buchara psoiert für den russischen Fotografen, 1911.
Ein Foto wie eine indische Miniaturmalerei: der Emir von Buchara psoiert für den russischen Fotografen, 1911.

© Sergei Michailowitch Prokudin-Gorski / LOC, LC-DIG-prokc-21887

1911 reist er bis in die Provinz Samarkand, wo er die exotischsten Aufnahmen macht. Er fotografiert die prächtigen Moscheen und Koranschulen, aber auch die Nomaden, deren Leben sich durch die beginnende Industrialisierung verändert. Es sind großartige Aufnahmen von archaischer Schönheit und Zeugnisse einer untergehenden Welt. Der Emir  von Buchara posiert 1911 breitbeinig in seinem üppig bestickten blauen Seidenmantel mit Schwert wie auf einer indischen Miniaturmalerei. Ein Herrscherporträt wie gemalt – nur dieses Mal fotografiert. Die Studenten der Koranschule von Samarkand mit ihren traditionellen Turbanen und Gewändern haben wahrscheinlich vor 200 Jahren nicht anders ausgesehen – Prokudin-Gorski ist mit seinen Aufnahmen eine beeindruckende Dokumentation der kulturellen Vielfalt am Scheideweg der Geschichte gelungen. Der sich verschärfende Erste Weltkrieg hatte 1915 sein Projekt beendet, die Unterstützung von Seiten des Zaren blieb aus.

Nach der russischen Revolution wanderte er aus und reiste zunächst nach Norwegen, seine 6000 wertvollen Glasplatten und unzählige Fotoalben nahm er mit. Von Norwegen reiste er weiter nach London und Paris und hielt Vorträge über Farbfotografie, doch ohne finanzielle Unterstützung waren seine Projekte nicht realisierbar – die Farbfotografie war noch viel zu teuer. Er hielt sich mit einem kleinen Fotostudio in Paris über Wasser, wo er 1944 starb. Seine Söhne gaben die wertvollen Fotos 1948 an die Fotosammlung der Library of Congress in Washington. Dort wurden sie restauriert und digitalisiert und zum Glück so belassen wie sie waren – als faszinierende Zeugnisse der Frühzeit der Farbfotografie und als Dokumente eines Landes im Umbruch. Sie werden das optische Gedächtnis des zaristischen Russlands prägen.

Nostalgia. The Russian Empire of Czar Nicholas II. The Russia of Czar Nicholas II in laboriously restored historical color photographs by Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii. Gestalten Verlag, Berlin 2012. 320 Seiten. 58 Euro.

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